VG Braunschweig urteilt über Verfolgung wegen Ehrverletzung
Kein interner Schutz für Frauen im Irak
von Rechtsreferendar Nicolas Bastuck
Das Verwaltungsgericht Braunschweig hat am 30.07.2021 (Az. 2 A 275/18) im Asylrecht über eine Klage gegen die Ablehnung der Asylanträge zweier irakischer Staatsangehöriger entschieden. Den Asylbegehren lag die Furcht vor (weiteren) Verfolgungshandlungen durch die Familie der Klägerin, die diese mit einem Cousin verheiraten wollte, sowie ihre frei gewählte Beziehung als „Beschmutzung der Familienehre“ wahrnahm und beiden mit sog. „Ehrenmord“ gedroht hatte, zu Grunde.
Die Entscheidung
Das VG urteilte, dass von Familie und Mehrheitsgesellschaft als entehrt bzw. ehrlos angesehene Frauen im Irak eine bestimmte soziale Gruppe i. S. d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG darstellen und damit ein für den Flüchtlingsschutz erforderlicher Verfolgungsgrund für eine Todesdrohung vorliegt. Männern hingegen, die von ähnlichen Verfolgungshandlungen betroffen sind, fehle es regelmäßig an einem flüchtlingsrelevanten Verfolgungsgrund. So wurde die Klägerin als Flüchtling anerkannt, während ihrem Lebensgefährten – dem Kläger zu 2) – mit dem Argument, von „Ehrenmord“ bedrohte Männer bildeten keine bestimmte soziale Gruppe, (nur) subsidiärer Schutz zuerkannt wurde.
Die Entscheidung folgt damit der herrschenden Rechtsprechung, die die Voraussetzungen des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zwingend kumulativ liest. Angesichts des Gesetzeswortlauts, nach dem eine Gruppe „insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe [gilt], wenn…“, und im Hinblick auf die schutzorientierte Ausrichtung der QualifikationsRL wäre jedoch grundsätzlich Raum für eine offenere Auslegung dieses Merkmals.
Das Wichtigste in Kürze
VG Braunschweig, Urteil vom 30.07.2021 – 2 A 275/18
Verletzung der Familienehre
Nicht immer und überall können Menschen ihre Parterinnen und Partner frei wählen. Arrangierte Ehen und lange im voraus vereinbarte Verbindungen aus familiären, kulturellen oder wirtschaftlichen Gründen waren und sind immer wieder an der Tagesordnung. Davon betroffen sind vor allem Frauen. Wird den Planungen der Familienführung nicht entsprochen, gilt dies als schwere Kränkung und wird als Verletzung der Familienehre aufgefasst, die in den Augen mancher schlimmstenfalls nur durch den Tod wieder hergestellt werden kann.
Der Begriff "Ehrenmord"
Der Begriff „Ehrenmord“ bezeichnet laut Wikipedia „die Ermordung eines Mitglieds aus der Familie des Täters als Strafe für eine angenommene Verletzung der familieninternen Verhaltensregeln durch das Opfer. Der Mord soll die vermeintliche Schande bzw. die drohende oder bereits zugefügte gesellschaftliche Herabsetzung des Täters bzw. seiner Familie abwenden und dem Umfeld signalisieren, dass die Ehre wiederhergestellt wurde.“
Der Fall vor dem Verwaltungsgericht
Es ging um den Asylantrag eines Paares, das vor Verfolgung durch die Familie der Klägerin geflohen war, die diese mit einem Cousin verheiraten wollte, sowie ihre frei gewählte Beziehung als „Beschmutzung der Familienehre“ wahrnahm und beiden mit dem Tod bedroht hatte. Das VG urteilte, dass von Familie und Mehrheitsgesellschaft als entehrt bzw. ehrlos angesehene Frauen im Irak eine abgrenzbare soziale Gruppe darstellen. Die Klägerin wurde als Flüchtling anerkannt, während ihrem Lebensgefährten subsidiärer Schutz zuerkannt wurde.
Warum die Entscheidung wichtig ist
Das Urteil zeigt, dass sowohl Familien als flüchtlingsrechtlich relevante Verfolger in Betracht kommen und deren Einfluss innerhalb eines Landes durchaus weitreichend sein kann. Auch die zeitliche Reichweite der Gefahr wird in dem Urteil angemessen hervorgehoben. Gerade verfolgten Frauen wird damit nicht auferlegt, sich in ihrem Herkunftsland vor Bedrohungen zu verstecken.
Die weiteren Erwägungen des Gerichts
Des Weiteren entschied das VG, dass von „Ehrenmorden“ Betroffene zumindest dann nicht auf Schutzmöglichkeiten in einem anderen Teil des Herkunftsstaates verwiesen werden können, wenn die Verfolgung von Personen ausgeht, die auf ein großes und etabliertes (familiäres) Netzwerk zurückgreifen können. So ist das Gericht vorliegend davon ausgegangen, dass der Kläger zu 2) und die Klägerin, deren Angehörige Teil eines großen und einflussreichen Stammes in Kurdistan-Irak sind, auch bei einem Umzug in einen anderen Teil des Landes weiterhin der Gefahr von Verfolgungshandlungen ausgesetzt seien. Zwar sei nicht unbedingt zu erwarten, dass sie im Falle einer Rückkehr unmittelbar von Verfolgungshandlungen betroffen wären, doch müsse damit gerechnet werden, dass sie durch die Reichweite des Stammesnetzwerks früher oder später aufgespürt würden. Dies gelte umso mehr, da mehrere Mitglieder des Netzwerks entweder über staatliche Posten oder gesellschaftlichen Einfluss Möglichkeiten hätten sich entsprechende Informationen zu verschaffen. Insbesondere sei zudem zu berücksichtigen, dass „Ehrübertretungen“ als unverzeihlich gelten und der „Makel der Familienehre“ auch nach vielen Jahren noch eine Verfolgungsgefahr begründe.
Welche Bedeutung hat das Urteil?
Die Entscheidung ist sowohl hinsichtlich der angemessenen Berücksichtigung der räumlichen Verfolgungsreichweite nicht-staatlicher Akteure als auch in Bezug auf die zeitliche Reichweite der Gefahr von Verfolgungshandlungen zu begrüßen und kann für vergleichbare Konstellationen auch für andere Herkunftsländern fruchtbar gemacht werden. Aus den Feststellungen des VG lässt sich abstrahiert schlussfolgern, dass die Gefahr des Ausfindig-gemacht-werdens umso größer wird, je größer das zur Verfügung stehende Netzwerk ist und insbesondere je mehr Zeit vergeht. Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass nach unverzeihlichen Ehrverletzungen auch die Betroffenen über viele Jahre tatsächlich gesucht werden und nach deren Aufgefunden-werden die reale Gefahr von Verfolgungshandlungen weiterhin besteht. Im Falle der Rückkehr bedeutet dies – auch für Konstellationen, in denen die Verfolger über ein weniger weitreichendes Netzwerk verfügen, der Umzug in einen anderen Landesteil unbemerkter möglich ist oder der Betroffene auf eine Erwerbsarbeit nicht notwendigerweise angewiesen ist –, dass die Entdeckungswahrscheinlichkeit eher größer als kleiner wird und sich die betroffene Person daher praktisch nie mehr vor der Verfolgung sicher fühlen könnte. Um die Gefahr einer Entdeckung zu minimieren, müsste die Betroffene darauf verwiesen werden, sich auf unbestimmte Zeit zu verstecken und sozial zu isolieren. Inwiefern dies im Rahmen der Prüfung internen Schutzes zumutbar wäre, erscheint sehr fraglich.