Bundearbeitsgericht zum Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
„Gelber Schein“ kann angezweifelt werden
von Rechtsanwalt Dustin Hirschmeier
- Ausgangspunkt
Nach den Ausführungen des statistischen Bundesamtes sind in der Bundesrepublik Deutschland ca. 33,6 mio Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, erwerbstätig sogar 45,1 mio Menschen (https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/_inhalt.html). Die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts – als höchstes deutsches Gerichts für Fragen betreffend das Arbeitsrecht – haben aus diesem Grund Auswirkungen auf eine ganz beträchtliche Anzahl an Bürger:innen.
Im Arbeitsvertrag regeln die Parteien die entsprechenden Verpflichtungen für Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen. Der Arbeitgeber schuldet das Entgelt, der Arbeitnehmer seine Arbeitskraft in der vertraglich vereinbarten Weise. Doch was geschieht, wenn Arbeitnehmer:innen ihre Arbeitskraft aufgrund einer Erkrankung nicht erbringen können?
Das Gesetz sieht in § 326 Abs. 1 S. 1 BGB den Grundsatz „Ohne Arbeit kein Lohn“ vor. Dieses Ergebnis ist in den Augen des Gesetzgebers jedoch nicht mit den Vorgaben der sozialen Marktwirtschaft vereinbar, sodass eine Modifizierung dieses Grundsatzes durch das Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) verankert wurde. Die Vorgaben dieses Gesetzes sind zwingend und können nicht durch die Arbeitsvertragsparteien ausgehebelt werden.
Im Falle der Erkrankung gewährt § 3 Abs. 1 EFZG Arbeitnehmer:innen für die Dauer von sechs Wochen einen Anspruch gegen Arbeitgeber:innen auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts, trotz Nichterbringung der Arbeitsleistung. Die Höhe beträgt gem. § 4 Abs. 1 EFZG 100% der arbeitsvertraglich vereinbarten Vergütung. Wichtig ist, dass der Anspruch auf Entgeltfortzahlung erstmalig nach vierwöchiger (ununterbrochener) Dauer des Arbeitsverhältnisses entsteht.
Arbeitgeber:innen können unter bestimmten Voraussetzungen eine Erstattung nach dem Aufwendungsausgleichsgesetz (AAG) erhalten.
Nach Ablauf der sechs Wochen haben Arbeitnehmer:innen die darüber hinaus weiter arbeitsunfähig erkrankt sind einen Anspruch auf Krankengeld. Dieser wird für die Dauer von maximal 78 Wochen gewährt und durch die Krankenkassen gewährt. Anspruchsgegner sind hier nicht Arbeitgeber:innen, sondern die Krankenkassen. Die Höhe des Krankengeldes beträgt ca. 70 % der regulären Vergütung (§§ 44 SGB V ff.).
Das Wichtigste in Kürze
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 8.9.2021 – 5 AZR 149/21
Arbeitslohn bei Krankheit
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Krankengeld – für 33,6 Millionen Menschen in Deutschland eine wichtige soziale Absicherung. Ohne diese wären Krankheiten nicht nur fatal für die Gesundheit, sondern auch für das Einkommen, weil in den ersten sechs Wochen der Arbeitgeber, danach die Krankenversicherung weiter zahlt.
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Wer krank ist, weist das dem Arbeitgeber durch „die AU“ nach, den „gelben Schein“, der auch an die Krankenversicherung gehen muss. Diese muss der Arbeitgeber akzeptieren, wenn er keinen Grund für Zweifel hat. Welche Zweifel berechtigt sind, ist immer wieder umstritten.
Der Fall vor dem Bundesarbeitsgericht
Das Bundesarbeitsgericht hat in einem aktuellen Fall eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht als Nachweis gelten lassen und dem Arbeitgeber Recht gegeben, der keinen Lohn mehr gezahlt hat. Es ging um die letzten Tage der Arbeit nach einer Kündigung durch die Arbeitnehmerin.
Unser Rat für Sie
Arbeitnehmer:innen sollten darauf achten, dass die AU-Bescheinigungen schlüssig sind und ggf. mehr als nur den „gelben Schein“ bereithalten, wenn es zum Streit kommt. Arbeitgeber:innen können aus der Entscheidung Maßstäbe ableiten, wann Zweifel angebracht sein können.
- Streit über die tatsächliche Erkrankung
Was geschieht nun, wenn Arbeitnehmer:innen erkrankt sind und Arbeitgeber:innen diesen Umstand nicht glauben? Im Arbeitsvertrag werden regelmäßig Regelungen getroffen, wonach Arbeitnehmer:innen die Arbeitsunfähigkeit unmittelbar (also noch vor Dienstbeginn) nach Kenntnis des Krankheitsfalles gegenüber Arbeitgeber:innen anzeigen müssen. Je nach Ausgestaltung des Arbeitsvertrags ist spätestens am 3. Krankheitstag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen. Diese Pflicht ergibt sich auch aus § 5 EFZG. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wird durch den Arzt/die Ärztin ausgestellt. Nicht selten zweifeln Arbeitgeber:innen den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung an. Aus Gründen des Schutzes von Persönlichkeitsrechten von Arbeitnehmer:innen haben Arbeitgeber:innen keine Kenntnis von der konkreten Erkrankung und können dementsprechend anhand der in der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dargestellten Information nicht nachprüfen, ob tatsächlich oder in welcher Schwere eine Erkrankung tatsächlich vorliegt. Gerade in den Zeiten der Covid-19 Pandemie, in der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ohne konkreten Termin bei Mediziner:innen ausgestellt wurden, kam so für viele Arbeitgeber:innen der Verdacht des Missbrauchs auf. Arbeitnehmer:innen sind – als anspruchsberechtigte Personen grundsätzlich – verpflichtet die Arbeitsunfähigkeit gegenüber Arbeitgeber:innen darzulegen und zu beweisen. Die Arbeitsunfähigkeit kann zwar auch auf anderem Wege nachgewiesen werden, jedoch besitzt die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung grundsätzlich einen hohen Beweiswert. Dies ergibt sich bereits aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber diesen Nachweis selbst im Entgeltfortzahlungsgesetz als Nachweis vorgesehen hat. Das Bundesarbeitsgericht hat deshalb in seiner ständigen Rechtsprechung festgehalten, dass in den Fällen, in denen Arbeitnehmer:innen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen, die Arbeitsgerichte den Beweis der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen dürfen (BAG, Entscheidung vom 26.10.2016, AP Nr. 33 zu § 3 EFZG). Die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung führt demnach zu einer tatsächlichen Vermutung für die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit. Diese Vermutung kann indessen erschüttert werden. Arbeitgeber:innen, die eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht gelten lassen wollen, müssen tatsächliche Umstände darlegen und beweisen, die zu ernsthaften Zweifeln an der behaupteten krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlass geben (BAG Entscheidung vom 19.02.1997, AP Nr 4 zu § 3 EFZG). In der Regel sind Arbeitgeber:innen gehalten eine gutachtliche Stellungnahme des medizinischen Dienstes einzuholen. Die Erschütterung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist jedoch auch aus anderen Gründen möglich. Gelingt die Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung müssen Arbeitnehmer:innen im Rahmen einer sekundären Darlegungslast substantiiert darlegen und beweisen, dass eine Arbeitsunfähigkeit vorgelegen hat. Die Vermutung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung greift in diesen Fällen also nicht mehr. Der Beweis kann dann bspw. durch Vernehmung behandelnder Ärzte/Ärztinnen erfolgen.
- Was ist neu?
In dem vom BAG nun entschiedenen Fall hat eine Arbeitnehmerin ihr Arbeitsverhältnis selbst gekündigt. Am Tag der Kündigung legte die Arbeitnehmerin ihrem Arbeitgeber eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor. Die Dauer der Arbeitsunfähigkeit (in der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung) deckte sich dabei exakt mit dem Zeitraum der Kündigungsfrist, also dem Zeitraum, den der Arbeitnehmer in diesem Fall noch hätte arbeiten müssen, bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Aufgrund des Umstandes dieses Gleichlaufs zwischen Kündigungsfrist und Arbeitsunfähigkeit meinte der Arbeitgeber, der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei erschüttert. Die Arbeitnehmerin trug im Verfahren vor, das sie kurz vor einem Burnout gestanden habe und ordnungsgemäß krankgeschrieben gewesen sei. Das BAG hat nun entschieden:
„Die Koinzidenz zwischen der Kündigung vom 08.02.2019 zum 22.02.2019 und der am 08.02.2019 zum 22.02.2019 bescheinigten Arbeitsunfähigkeit begründet einen ernsthaften Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit. Die Klägerin ist im Prozess ihrer Darlegungslast zum Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit – auch nach Hinweis des Senats – nicht hinreichend konkret nachgekommen.“
Das BAG hat demnach lediglich die bereits geltenden Regeln modifiziert. Die Klägerin hatte hier die Arbeitsunfähigkeit durch Benennung der behandelnden Mediziner:innen als Zeugen ggfs. nachweisen können.
- Welche Konsequenzen hat dies für Sie?
Im Grundsatz ändert sich an den oben dargestellten Abläufen durch die Entscheidung des BAG nichts. Das BAG hat lediglich einen Einzelfall konkretisiert. Für Arbeitnehmer:innen sollte jedoch gerade in den Konstellationen, in denen ein Arbeitsverhältnis selbst gekündigt wird und die Arbeitsunfähigkeit Deckungsgleich mit den Zeiten der Kündigungsfrist sein, darauf geachtet werden behandelnde Mediziner:innen frühzeitig um eine ergänzende Stellungnahme zu bitten. Diese kann dann später – sollten Arbeitgeber:innen die Arbeitsunfähigkeit anzweifeln – umgehend nachgeschoben werden. Für Arbeitgeber:innen folgt aus dem Urteil des BAG, dass es sich gerade in Beendigungskonstellation lohnen kann, genau hinzusehen und die jeweiligen Zeiten abzugleichen.