ein Kommentar von Rechtsanwalt Dustin Hirschmeier

Mobilität vs. Unversehrtheit

Immer wieder kommt es im Straßenverkehr zu Unfällen, die erhebliche Verletzungen und den Tod von Menschen nach sich ziehen. Im Alltag begegnet das Bedürfnis an individueller Mobilität (Art. 2 Abs. 1 GG) dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf Leben, Art. 2 Abs. 2 GG. Sowohl die Wahl der Art der Mobilität im Alltag als auch das Recht nicht gefährdet zu werden genießen somit verfassungsrechtlichen Schutz. An diesen Vorgaben haben sich einfachgesetzliche Regelungen messen zu lassen. Wann immer grundrechtlich geschützte Positionen aufeinandertreffen, muss ein Ausgleich geschaffen werden, wonach beiden Positionen möglichst viel Entfaltung zukommt, ohne dass eine Position vollständig zurücktritt. Diese Abwägung wird in der Rechtswissenschaft als praktische Konkordanz bezeichnet.

Die rechtliche Konfliktbewältigung in Bewegung

Im Rang unterhalb der Verfassung hat der Gesetzgeber die Vorgaben der Verfassung konkretisiert und in einfachgesetzlichem Rahmen festgelegt. Für den Straßenverkehr sind die Verhaltensgebote primär in der StVO niedergelegt. Verstöße gegen die StVO sind regelmäßig mit einem Bußgeld belegt und werden im Ordnungswidrigkeitsverfahren geahndet. § 47 OwiG sieht für Ordnungswidrigkeiten das sog. Opportunitätsprinzip vor. Das bedeutet, dass die zuständige Verwaltungsbehörde im pflichtgemäßen Ermessen selbst entscheiden kann, ob sie eine Verfolgung eines Verstoßes fortführt oder das Verfahren eigenständig einstellt. Ein weiterer Aspekt des Ordnungswidrigkeitsverfahrens im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr ist, dass die Bußgelder regelmäßig aufgrund des erlassenen Bußgeldkatalogs festgelegt sind.

Der technische Fortschritt und die Zunahme an individueller Mobilität führen bedauerlicherweise immer häufiger zu erheblichen Verletzungen und immer häufiger zum Tod von Bürger:innen im Zusammenhang mit dem täglichen Straßenverkehr. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Bußgelder, die im Ordnungswidrigkeitenverfahren verhängt werden, eine ausreichende Abschreckungswirkung entfalten, um die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmenden zu gewährleisten. In den vergangenen Jahren hat sich deshalb immer häufiger das Erfordernis ergeben, Fragen im Zusammenhang des Straßenverkehrs nicht mehr nur auf der Ebene der Ordnungswidrigkeiten juristisch zu diskutieren, sondern diese in den Bereich des Strafrechts zu verlagern. Im Unterschied zum Ordnungswidrigkeitenverfahren obliegt die Entscheidung, ob ein Strafverfahren eingeleitet wird nicht den Verwaltungsbehörden, sondern der Staatsanwaltschaft. § 152 Abs. 2 StPO legt das sogenannte Legalitätsprinzip fest. Danach ist die Strafverfolgungsbehörde verpflichtet Ermittlungen aufzunehmen, sofern zureichende Anhaltspunkte vorliegen, dass eine Straftat verübt worden sein könnte. Im Unterschied zum Bußgeldverfahren besteht hier also nicht die Möglichkeit ein Verfahren aus Opportunitätsgründen einzustellen.

Das Strafrecht sieht in der Bundesrepublik besondere Straftatbestände vor, die auf den Straßenverkehr zugeschnitten sind (bspw. §§ 315b, 315c, 315d, 316 StGB). In den vergangenen Jahren hat sich die rechtswissenschaftliche Diskussion und Praxis jedoch mit weiteren Fragestellungen aus dem Bereich des Strafrechts beschäftigen müssen. Die Straftatbestände, die auf den Straßenverkehr zugeschnitten waren, haben die tatsächlichen Auswirkungen des Straßenverkehrs nicht (vollständig) erfassen können. Die öffentliche Diskussion hat – zurecht – gefragt, ob bestimmte Verhaltensweisen im Straßenverkehr von der Gesellschaft zu akzeptieren seien und weshalb das Strafrecht diese Verhaltensweisen nicht in ausreichender Weise sanktionierte. Hintergrund dieser Überlegungen ist ein medial stark diskutierter Vorfall in Berlin, der indessen kein Einzelfall geblieben ist – jedenfalls was die Tathandlung anbelangt. In dem damaligen Fall haben sich zwei junge Männer in der Hauptstadt verabredet ein Autorennen innerhalb einer Innenstadt durchzuführen. Nach den Informationen, die bekannt geworden sind, sind die beiden Männer mit hochmotorisierten Autos mit hoher Geschwindigkeit in Berlin durch die Innenstadt gerast. Zunächst hatten die Beteiligten diese Rennen von Ampel zu Ampel begonnen. Im weiteren Verlauf steigerten sich die Beteiligten immer weiter in die Situation herein und erreichten Geschwindigkeiten von deutlich über 100 km/h (teils bis zu 160 km/h) in der Innenstadt Berlins. Zu diesem Zeitpunkt reagierten die Beteiligten auch nicht mehr auf rote Ampeln, sondern missachteten diese und fuhren über rot. Das Rennen endete durch einen fürchterlichen Zusammenstoß. Ein älterer Herr ist mit seinem Auto – er hatte grün – auf eine Kreuzung eingefahren und wurde von einem der am Rennen beteiligten Personen seitlich gerammt. Der ältere Herr verstarb am Ort des Zusammenstoßes, während die beiden am Rennen beteiligten Männer überlebten. Erst dieser Vorfall veranlasste den Gesetzgeber dazu, „Autorennen“ strafrechtlich ausdrücklich zu sanktionieren und § 315d StGB in das Strafgesetzbuch aufzunehmen.

Ein Mensch wurde durch rücksichtsloses Verhalten getötet. Die Rechtsordnung ging zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich von einem derart krassen Fehlverhalten im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr aus. Für die Einordnung des Strafverfahrens ist es wichtig zu wissen, dass das Strafrecht so aufgebaut ist, dass nur vorsätzliches Handeln strafbar ist, solange das Gesetz nicht auch ausdrücklich fahrlässiges Verhalten unter Strafe stellt. Regelmäßig wurden und werden Strafverfahren im Zusammenhang mit dem Tod eines Menschen im Straßenverkehr durch § 222 StGB sanktioniert. Danach wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer fahrlässig einen Menschen tötet. § 212 StGB sieht vor, dass im Falle der vorsätzlichen (absichtliche, wissentliche oder billigend in Kauf nehmende) Tötung eines Menschen die Strafe nicht unter 5 Jahren Freiheitsstrafe beträgt. Als schwierig gestaltet sich insbesondere die Abgrenzung zwischen fahrlässigem Handeln und bedingtem Vorsatz. Fahrlässigkeit liegt immer dann vor, wenn der Täter die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt, zu der er nach den Umständen und seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet und fähig ist. Bedingter Vorsatz liegt nach der Rechtsprechung des BGH vor, wenn der Täter den Eintritt der Folge (Tötung eines Menschen) für möglich hält, er dies jedoch nicht unbedingt wünscht. Der Täter nimmt die Folge hierbei also billigend in Kauf. In der Abgrenzung zur Fahrlässigkeit hält der Täter in letzterem Fall die Folge der Tat durchaus auch für möglich, vertraut aber darauf, dass diese Folge nicht eintreten werde. In der Praxis ist diese Abgrenzung schwierig, weil sie grundsätzlich an subjektiven Komponenten, also der inneren Einstellung des Täters zur Tat, beantwortet werden muss und man dem Täter „nicht in den Kopf schauen kann“. Die Beurteilung durch das Gericht und die Staatsanwaltschaft erfolgt also anhand objektiver Umstände, die Rückschlüsse auf diese innere Einstellung des Täters zulassen. Mord im Sinne des § 211 StGB liegt immer dann vor, wenn die Tötung eines Menschen mit besonderen Merkmalen verknüpft ist. Das Gesetz knüpft hier an die Tötung besondere tatbezogene oder täterbezogene Merkmale, die zu einer Strafschärfung führen, namentlich lebenslanger Freiheitsstrafe.

Im Fall der „Kudamm-Raser“ hatte die Staatsanwaltschaft nicht wegen fahrlässiger Tötung, sondern wegen (versuchten) Mordes angeklagt. Die Staatsanwaltschaft ging hier also davon aus, dass der Täter bedingten Vorsatz hatte. (Ich beschränke meine Ausführungen hier auf den Täter, der den getöteten Menschen nicht gerammt hatte, sondern sich an dem Rennen beteiligt hatte). Das Landgericht Berlin hatte den Täter wegen versuchten Mordes verurteilt. Dreimal legte der Täter Revision zum BGH ein. Zweimal hob er BGH die Verurteilung auf, im Rahmen der dritten Revision bestätigte der BGH die Verurteilung wegen versuchten Mordes (4 StR 319/21).

Die Problematik in juristischer Hinsicht besteht in diesem Fall darin, dass sich der Täter tatsächlich keine Gedanken dazu gemacht hatte, dass er durch sein Verhalten einen Menschen töten könnte. Er hatte im Zeitpunkt des Zusammenstoßes wegen der hohen Geschwindigkeit auch den durch den Zusammenstoß getöteten Menschen nicht wahrgenommen. Nach den Feststellungen des Landgerichts Berlin, die der BGH mitgetragen hat, war für den Täter klar, dass er einen Zusammenstoß auf der Kreuzung nicht hätte verhindern können und ging aufgrund dieses Umstandes von vorsätzlichem Handeln aus.

Der Bundesgerichtshof hatte die Mordmerkmale „Heimtücke“ und „niedrige Beweggründe“ als erfüllt angesehen. Heimtückisch handelt ein Täter (vereinfacht dargestellt), wenn das Tatopfer sich im Zeitpunkt der Tat keines Angriffs versieht, das Opfer arglos ist, aus diesem Grund wehrlos. Niedrige Beweggründe sind dann erfüllt, wenn die Tat auf sittlich niedrigster Stufe steht. In den Autorennenfällen ist somit nun geklärt, dass diese im Falle der Tötung eines Menschen den Straftatbestand es Mordes erfüllen können.

Tödliche Unfälle mit Radfahrenden

Anlass dieser Ausführungen ist ein (erneuter) bedauerlicher Vorfall im Straßenverkehr. Am 23.03.2022 ist ein Radfahrer in Osnabrück erneut getötet worden, als ein LKWführer im Stadtgebiet rechts abbiegen wollte und dabei den Radfahrer überrollte. Diese Art von Vorfällen mit LKW kommt bedauerlicherweise immer wieder vor. Es ist nicht meine Intention dem Führer des LKW den Vorwurf der Absicht zu machen. Der Vorfall zeigt jedoch wieder einmal, dass sich trotz zahlreicher vergleichbarer Ereignisse in der Vergangenheit, keine Besserung eingestellt hat. Der Gesetzgeber hat in diesen Fällen nicht reagiert. Aus diesem Grund halte ich es für erforderlich, dass die strafrechtliche Diskussion – insbesondere nach der Entscheidung des BGH vom 19.01.2022 zu den Raserfällen – auch die Konstellation um die LKW in das Blickfeld nimmt. Überträgt man die Feststellungen zu den Raserfällen auf die abbiegenden LKW, so wird man feststellen, dass sich der Radfahrer ebenfalls keines Angriffs versehen haben wird. Das wäre nach meinem Dafürhalten auch nicht anders einordnenbar. Derjenige, der im Straßenverkehr „stärker“ ist, trägt eine höhere Pflicht zur Rücksichtnahme. Es wäre nicht vermittelbar, wenn der „schwächere“ Verkehrsteilnehmer, namentlich Fußgehende und Radfahrende stets damit rechnen müssten, überfahren zu werden. Dies stellte einen Offenbarungseid dar und eine Verlagerung der Verantwortung auf Nichthandelnde.

Auch in diesen Konstellationen der abbiegenden LKW stellt sich die Frage ob fahrlässiges Handeln vorliegt oder bedingter Vorsatz. Hat der Handelnde das Risiko billigend in Kauf genommen oder darauf vertraut, dass nichts geschehen würde? Der Vergleich zu den Raserfällen erscheint im ersten Moment konstruiert. Für jeden ist sofort klar, dass eine Fahrt mit dem Auto mit einer Geschwindigkeit, die die Richtgeschwindigkeit auf der Autobahn überschreitet, in der Innenstadt extrem gefährlich ist. Bis zu den Entscheidungen des BGH in den Raserfällen hat hier jedoch keine Verurteilung wegen Totschlags/Mords stattgefunden. Die Rechtsprechung ist im Jahr 2022 neu, für diese Taten.

Ein Auto ist bei der Geschwindigkeit von 160 km/h nicht kontrollierbar in der Stadt. Ich möchte die Frage aufwerfen, ob ein LKW kontrollierbar ist, in der Innenstadt. Der LKW wird nicht mit der Geschwindigkeit des Autos im Kudamm-Fall bewegt. Gleichwohl besteht die Gefährdung in diesem Fall durch das erheblich größere Gewicht. Wenn der Ansatz beim Rasen die Geschwindigkeit ist, mit der eine fehlende Kontrollierbarkeit begründet wird, müsste diese Frage folgerichtig auch für LKW geprüft werden, mit erheblichem Gewicht und einer scheinbaren Unübersichtlichkeit. Der Rechtsstaat sollte es nicht akzeptieren, dass durch den Wunsch unsicherer Mobilität Menschen sterben. Neben dem Gewicht, von dem eine erhebliche Gefahr ausgeht, spielt auch das Argument des „toten Winkels“ eine erhebliche Rolle für meine Fragestellung. An zahlreichen LKW sind Aufkleber angebracht, die andere Verkehrsteilnehmende auf einen „toten Winkel“ aufmerksam machen sollen. Diese Aufkleber verlagern das Risiko einer Verletzung auf andere Verkehrsteilnehmer und ist m. E. auch bei der Frage des Verhaltens eines LKW-Führenden zu berücksichtigen. Es wären Untersuchungen wünschenswert, wie sich diese Aufkleber auf das Verhalten und Selbstverständnis des Führenden des LKW auswirken. Die EU hat die Problematik des „toten Winkels“ erkannt. In der Richtlinie 2007/38 EG hat die EU für Neuzulassungen für in der Richtlinie bestimmte schwere Fahrzeuge, ab spätestens April 2009, vorgesehen, dass der „tote Winkel“ entschärft werden soll. LKW – mit bestimmten Ausnahmen – müssen im Falle der Zulassung in der EU mit Weitwinkel und Nahbereichsspiegeln ausgestattet sein. Auch vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob auch in diesen Fallgestaltungen die Frage des Vorsatzes gestellt werden sollte. Nach der Pressemitteilung der Polizei Osnabrück wurde Haftbefehl gegen den LKW-Fahrer beantragt und Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung aufgenommen. Zumindest in diesem Fall hat die Staatsanwaltschaft eine Vergleichbarkeit zu den Raserfällen (noch) nicht angenommen.

Ein wichtiges Wort zum Schluss

Ich möchte jedoch auch betonen, dass eine strafrechtliche Aufarbeitung den Verlust für die Angehörigen nicht aufwiegt. Jeder Todesfall im Straßenverkehr ist m. E. aber einer zu viel. Solange die Infrastruktur nicht für den Schutz und die Sicherheit der „schwächeren“ Verkehrsteilnehmenden geändert wird und solange der Gesetzgeber nicht auf einfachgesetzlicher Ebene aktiv wird, um den Schutz vulnerabler Gruppen im Straßenverkehr auszubauen, ist es aus meiner Sicht wichtig die oben aufgeworfene Fragestellung in der Rechtswissenschaft ergebnisoffen zu diskutieren. Denn die Abschreckung ist und bleibt eine Aufgabe des Strafrechts in unserer Gesellschaft, für die Durchsetzung der gemeinsamen Regeln und des gemeinsamen Konsenses.

Es verbleibt die Hoffnung auf eine bessere Infrastruktur. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen des Opfers.