von Rechtsanwalt Timm Laue-Ogal
In einem kürzlich veröffentlichten Urteil hat der Bundesgerichtshof (BGH) seine bisherige Ansicht zum sogenannten Schockschaden aufgegeben (Urteil vom 06.12.2022 – VI ZR 168/21). Die Anspruchsvoraussetzungen dafür werden künftig erheblich abgesenkt. Personen, die nach einem Ereignis unter Schock stehen, bei dem Nahestehende verletzt wurden, haben damit künftig eher die Chance, für ihr Leiden vom Schädiger eine Kompensation zu erhalten.
Was galt bisher beim Schockschaden?
Bisher hatte die Rechtsprechung für die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes bei einem Schockschaden eine besondere Voraussetzung aufgestellt: Die pathologisch fassbare psychische Beeinträchtigung des Geschädigten musste über die gesundheitlichen Probleme hinausgehen, die man beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel erleidet (so z.B. BGH, Urteil vom 21. Mai 2019 – VI ZR 299/17; auch noch OLG Celle, Urteil vom 24.08.2022 – 14 U 22/22).
Betroffene mussten also nicht nur die psychische Erkrankung infolge des Schicksals des Angehörigen darlegen und beweisen, sondern es wurde für den Schockschaden immer ein außergewöhnliches Ausmaß der psychischen Beeinträchtigung gefordert.
Wie sieht es nach der neuen BGH-Entscheidung aus?
Jetzt gesteht der BGH nach teils erheblicher Kritik aus der Fachliteratur ein, dass er damit eine Ungleichbehandlung von körperlichen und seelischen Schäden vorgenommen hatte. In seiner Entscheidung vom 06.12.2022 heißt es zunächst unverändert, soweit die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar sei, hat sie Krankheitswert. Für eine Gesundheitsverletzung, die einen Schmerzensgeldanspruch nach sich zieht, ist es aber nicht länger erforderlich, dass die Störung auch noch ein außergewöhnliches Ausmaß aufweise. Typische psychische Erschütterungen wie Trauer oder seelischer Schmerz nach einem prägenden Schadenereignis reichen dafür nunmehr aus.
Damit werden die Rechte von Betroffenen, die wegen eines Schockschadens psychische Beeinträchtigungen erleiden, durchaus gestärkt. Es bleibt aber dabei, dass die Geschädigten für das Vorliegen der seelischen Erkrankung und ihre Ursache den vollen Beweis zu führen haben.
Wie ist das Verhältnis von Schockschaden und Hinterbliebenengeld?
Die nahen Angehörigen eines bei einem Verkehrsunfall oder nach einem ärztlichen Behandlungsfehler verstorbenen Menschen haben seit 2017 nach § 844 Abs.3 BGB gegenüber dem Verursacher einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld. Damit hat der deutsche Gesetzgeber zum Ausgleich für die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen einen gewissen Ausgleich geschaffen, den es in den meisten europäischen Ländern schon seit Längerem gab.
Grundsätzlich haben Schockschaden und Hinterbliebenengeld eine völlig unterschiedliche Zielrichtung. Mit dem Hinterbliebenengeld soll die „normale“ Trauer eines Menschen mit persönlichem Näheverhältnis zu der getöteten Person gelindert werden. Das Schmerzensgeld für einen Schockschaden hingegen gleicht das Leid einer „echten“ psychischen Erkrankung aus, die Betroffene persönlich erlitten haben. Deshalb gibt es Stimmen in der juristischen Fachliteratur, nach denen beide Ansprüche nebeneinander bestehen können. Das OLG Celle hat diese Frage in seinem Urteil vom 24.08.2022 offen gelassen, weil es – noch vor dem neuen BGH-Urteil – einen Schockschaden abgelehnt hatte. Eine Entscheidung des BGH, ob ein Schockschaden-Schmerzensgeld auf ein Hinterbliebenengeld angerechnet werden muss, steht noch aus.
Was können Sie tun?
Sollten Sie oder Ihnen bekannte Personen wegen des Schicksals eines nahen Angehörigen, der von einer anderen Person verletzt oder gar getötet wurde, unter Schock stehen oder deshalb an psychischen Problemen leiden, können Sie ein Schmerzensgeld oder ein Hinterbliebenengeld vom Schädiger fordern. Lassen Sie dazu am besten von einem Fachanwalt für Medizinrecht beraten.