von Rechtsanwalt Timm Laue-Ogal

Das neue Nachweisgesetz – vom Papiertiger zum Bußgeldrisiko

Das Nachweisgesetz führte bislang ein Schattendasein in Deutschland. Es befasst sich mit den Vertragsbedingungen, die der Arbeitgeber seinen Beschäftigten auf deren Anforderung hin mitzuteilen hat. Verstöße durch den Arbeitgeber wurden nicht sanktioniert. Das ändert sich schon ab dem 01.08.2022: Künftig kann aber bei einem Verstoß gegen das Nachweisgesetz ein Bußgeld von bis zu 2.000 Euro pro Verstoß fällig werden.

Wie kam es dazu?

Der deutsche Gesetzgeber hat eine von der EU vorgegebene Vorgabe umgesetzt, und das sogar pünktlich. In der EU-Richtlinie zu transparenten Arbeitsbedingungen wird gefordert, dass die Mitgliedstaaten bis zum 31.07.2022 Vorgaben für Arbeitsvertragsklauseln umsetzen. Bislang hat Deutschland solche Fristen gerne einmal verstreichen lassen und deshalb Bußgelder an die EU bezahlt. Hier aber passierte die Änderung des Nachweisgesetzes den Bundestag ziemlich fix. Die Neuregelung gilt also ab dem 01.08.2022!

Der Vorher-Nachher-Vergleich

Das Nachweisgesetz hat in seinem § 2 Abs. 1 S. 1 bislang nur geregelt, dass Arbeitgeber die wichtigsten Vertragsbedingungen binnen eines Monats nach Beginn des Arbeitsverhältnisses dem Arbeitnehmer auf Anforderung mitzuteilen haben. Hierbei handelt es sich nach § 2 Abs. 1 S. 2 NachwG um folgende Punkte:

  • Name und Anschrift der Vertragsparteien (Nr. 1)
  • Zeitpunkt des Beginns des Arbeitsverhältnisses (Nr. 2)
  • Dauer des Arbeitsverhältnisses bei Befristung (Nr. 3)
  • Arbeitsort (Nr. 4)
  • Bezeichnung oder Beschreibung der Tätigkeit (Nr. 5)
  • Zusammensetzung und Höhe des Arbeitsentgelts (Nr. 6)
  • Arbeitszeit (Nr. 7)
  • Dauer des jährlichen Erholungsurlaubs (Nr. 8)
  • Kündigungsfristen (Nr. 9)
  • Allgemeiner Hinweis auf Tarifverträge, Betriebs- und Dienstvereinbarungen, die auf das Arbeitsverhältnis anwendbar sind (Nr. 10).

Ab dem 1. August 2022 aber müssen nach dem geänderten Gesetz zusätzlich folgende Vertragsbedingungen schriftlich niedergelegt werden:

  • Bei befristeten Arbeitsverhältnissen: Enddatum des Arbeitsverhältnisses (Nr. 3)
  • freie Wahl des Arbeitsorts durch den Arbeitnehmer (Nr. 4)
  • Sofern vereinbart, die Dauer der Probezeit (Nr. 6 neu)
  • Die Zusammensetzung und die Höhe des Arbeitsentgelts einschließlich der Vergütung von Überstunden, der Zuschläge, der Zulagen, Prämien und Sonderzahlungen sowie anderer Bestandteile des Arbeitsentgelts, die jeweils getrennt anzugeben sind und deren Fälligkeit sowie die Art der Auszahlung (Nr. 6 alt, Nr. 7 neu)
  • Die vereinbarte Arbeitszeit, vereinbarte Ruhepausen und Ruhezeiten sowie bei vereinbarter Schichtarbeit das Schichtsystem, der Schichtrhythmus und die Voraussetzungen für Schichtänderungen (Nr. 7 alt, Nr. 8 neu)
  • Regelungen bei Arbeit auf Abruf nach § 12 TzBfG (Nr. 9 neu)
  • Sofern vereinbart, die Möglichkeit der Anordnung von Überstunden und deren Voraussetzungen (Nr. 10 neu)
  • Ein etwaiger Anspruch auf vom Arbeitgeber bereitgestellte Fortbildungen (Nr. 12 neu)
  • Wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer eine betriebliche Altersversorgung über einen Versorgungsträger zusagt, der Name und die Anschrift dieses Versorgungsträgers – die Nachweispflicht entfällt, wenn der Versorgungsträger zu dieser Information verpflichtet ist (Nr. 13 neu)
  • Das bei der Kündigung des Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer einzuhaltende Verfahren, mindestens das Schriftformerfordernis und die Fristen für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses, sowie die Frist zur Erhebung einer Kündigungsschutzklage. Wird über die 3-Wochen-Frist nicht informiert, ist die Kündigungsschutzklage allerdings trotzdem verspätet (Nr. 9 alt, Nr. 14 neu).

Neu im Nachweisgesetz ist zudem, dass Arbeitgeber bereits am ersten Arbeitstag neuen Arbeitnehmern einen Teil der Informationen (Name und Anschrift der Vertragsparteien, Arbeitsentgelt und Überstunden, Arbeitszeit) schriftlich auszuhändigen haben. Weitere Informationen (insbes. Beginn des Arbeitsverhältnisses, ggf. Befristung, Arbeitsort, Tätigkeitsbeschreibung und Überstunden) müssen innerhalb von sieben Tagen nachgereicht werden. Für die übrigen Informationen hat der Arbeitgeber einen Monat Zeit.

Nach § 2 Abs. 1 S. 1 NachwG n.F. hat der Arbeitgeber schließlich die wesentlichen Vertragsbedingungen des Arbeitsverhältnisses innerhalb obiger Fristen

„schriftlich niederzulegen, die Niederschrift zu unterzeichnen und dem Arbeitnehmer auszuhändigen“.

Daraus ergibt sich, dass für den Nachweis der im NachwG gelisteten Vertragsbedingungen die Schriftform gefordert wird und die elektronische Form nicht ausreichend ist.

Für wen gelten die Änderungen?

Die neuen Nachweispflichten gelten unmittelbar gegenüber allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die ihr Beschäftigungsverhältnis am 1. August 2022 beginnen.

Verträge von Mitarbeitenden, die bereits vor dem 1. August 2022 beschäftigt waren, bleiben hingegen unverändert. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben durch das neue Nachweisgesetz allerdings das Recht, ihren Arbeitgeber dazu aufzufordern, ihnen die neuen Informationen mitzuteilen. Dieser muss dann grundsätzlich innerhalb von sieben Tagen reagieren und bereits die wesentlichen Arbeitsbedingungen schriftlich aushändigen.

Weitere Informationen etwa über das Kündigungsverfahren, den Urlaub, die betriebliche Altersversorgung oder Fortbildungen müssen spätestens innerhalb eines Monats bereitgestellt werden. Das kann jeweils auch durch ein Informationsblatt geschehen, das aber ebenfalls in Schriftform ausgehändigt werden muss.

Was ist jetzt zu tun?

Die Politik ging davon aus, dass nur etwas 10 % der Unternehmen Änderungsbedarf aufgrund der neuen Vorgaben des Nachweisgesetzes haben werden.

Das dürfte ein fulminanter Irrtum sein. Tatsächlich werden die allermeisten Arbeitgeber ihre Arbeitsvertragsformulare um die zusätzlichen Bedingungen ergänzen und ein Informationsblatt dazu erstellen müssen. Nur so kann verhindert werden, der Gefahr eines Bußgeldes zu entgehen. Natürlich gilt auch hier der Grundsatz: „Wo kein Kläger, da kein Richter.“ Wenn aber Beschäftigte ihre Arbeitsbedingungen anfordern, sollte jeder Arbeitgeber sich gut vorbereitet haben. Gerade die Vorgaben zur transparenten Regelung der Anordnung und Vergütung von Überstunden dürften für viele Angestellte von großem Interesse sein.

Wie können wir Ihnen helfen?

Im rechtskontor49 beraten Sie die Rechtsanwälte Timm Laue-Ogal und Dustin Hirschmeier zu allen Fragen der Arbeitsvertragsgestaltung. Melden Sie sich gern bei uns, wenn Sie als Arbeitgeber Klärungs- und Ergänzungsbedarf haben.

Und bitte achten Sie darauf: Es ist nicht mehr viel Zeit bis zum 01.08.2022!

von Rechtsanwalt Burkhard Wulftange

 

Corona, Inflation, Ukrainekrieg, CO2-Umlage – vor allem diese Faktoren werden bei den kommenden Betriebskostenabrechnungen außergewöhnlich hohe Nachzahlungen für Mieter zur Folge haben. Insbesondere werden die Heizkosten, auf die regelmäßig der Großteil der Betriebskosten entfällt, wegen der aktuell zu zahlenden Preise für Gas, Strom und Öl eine immense Nachzahlungsverpflichtung zur Folge haben. Zum Teil werden Nachzahlungen in Höhe von bis zu zwei Monatskaltmieten prognostiziert.

Wohnen und Gewerbe betroffen

Dies trifft Wohnungen wie Gewerberäume gleichermaßen. Das Fatale an dieser Konstellation: Die erhöhten Preise fallen vielfach bereits jetzt an, können dem Mieter aber erst sehr viel später im Rahmen der turnusmäßigen Betriebskostenabrechnung geballt präsentiert werden. Im Moment merkt der Mieter also von der Preissteigerung noch nichts. Das böse Erwachen könnte dann im nächsten Jahr zu finanziellen Schwierigkeiten führen, die im schlimmsten Fall sogar den Verlust der Wohnung bedeuten könnte, wenn die Nachzahlung pflichtwidrig nicht gezahlt wird.

Was ist zu tun?

Jeder Mieter ist daher gut beraten, sich bereits jetzt größtmögliche Klarheit über die zu erwartende Nachzahlung zu verschaffen, um schon jetzt für diesen Fall Vorsorge treffen zu können. In einem gut funktionierenden Mietverhältnis können Mieter und Vermieter gemeinsam einen Blick auf die aktuell aufgerufenen Preise werfen und im Wege einer Hochrechnung die zu erwartende Nachzahlung annäherungsweise errechnen. In einem zweiten Schritt könnten dann bereits jetzt die Vorauszahlungen angepasst werden. Davon würde dann auch der Vermieter profitieren. Alternativ könnte der Mieter das Geld auch eigenverantwortlich ansparen. Wichtig ist aber in jedem Fall die ungefähre Nachzahlungshöhe zu wissen, damit entsprechend kalkuliert werden kann.

Ohne Mitwirkung des Vermieters können sich Mieter auch über den Nachzahlungsrechner der Stiftung Warentest über die zu erwartende Nachzahlung informieren und wenn möglich entsprechende Rücklagen bilden.

Zu hohe Abrechnung vermeiden

Sollten Mieter gleichwohl von einer unerwartet hohen Abrechnung überrascht werden, empfiehlt es sich, die Abrechnung eingehend zu überprüfen und die Rechnungsbelege beim Vermieter einzusehen.  Erfahrungsgemäß finden sich in vielen Abrechnungen Fehler, die im Extremfall sogar die Unwirksamkeit einer Abrechnung zur Folge haben können. Ein genauer Blick auf Abrechnung, die Rechnungsunterlagen und Mietvertrag kann sich also lohnen, übrigens auch dann, wenn vermeintlich alles zu passen scheint. Auch Vermieter sollten im eigenen Interesse auf die korrekte  Abrechnung achten und darauf, dass die Abschlagszahlungen zur erwarteten Höhe passen – sonst kann ein ansonsten gutes Mietverhältnis schwer belastet werden. Im schlimmsten Fall bleiben beide Seiten auf Kosten sitzen!

Im rechtskontor49 ist Rechtsanwalt Burkhard Wulftange Ihr kompetenter Ansprechpartner im Mietrecht – sowohl für Mieter als auch Vermieter.

von Rechtsanwalt Dustin Hirschmeier

 

Mitteilung des Wechsels der Anschrift, § 10 Abs. 1 AsylG

Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in dem Urteil vom 14.12.2021 – 1 C 40/20, NVwZ 2022, 799 – mit der Frage beschäftigt, wann die Mitteilung des Anschriftenwechsels an die zuständigen Stellen noch als „unverzüglich“ im Sinne des Gesetzes erfolgt. Denn § 10 Abs. 1 AsylG verpflichtet die Personen im Asylverfahren, die nicht mehr in der Aufnahmeeinrichtung leben:

Der Ausländer hat während der Dauer des Asylverfahrens vorzusorgen, dass ihn Mitteilungen des Bundesamtes, der zuständigen Ausländerbehörde und der angerufenen Gerichte stets erreichen können; insbesondere hat er jeden Wechsel seiner Anschrift den genannten Stellen unverzüglich anzuzeigen.

Das Bundesverwaltungsgericht unterstreicht, dass es sich bei der Verpflichtung aus § 10 Abs. 1 AsylG nicht um eine Rechtspflicht handelt, sondern um spezifische Mitwirkungsobliegenheiten der Schutzsuchenden, bei deren Verletzung der Ausländer mit für ihn nachteiligen rechtlichen Konsequenzen rechen muss, vor allem dass ihm Zustellungen an die (alte) Anschrift normativ zugerechnet werden (BVerwG, NVwZ 2022, 799, 800, Rn. 15). Es ist dem Schutzsuchenden dann nicht möglich sich darauf zu berufen, dass er eine Zustellung nicht erhalten hätte.

In Abkehr zu der vorherigen Instanzrechtsprechung hat das Bundesverwaltungsgericht nun klar gestellt, dass (gerechnet vom Umzugstag) die Adressänderung innerhalb von zwei Wochen an die zuständige(n) Stelle(n) mitgeteilt werden muss. Dies gebietet der in Art. 41 GRCh verbürgte Anspruch auf eine gute Verwaltung (BVerwG NVwz 2022, 799, 802 f.).

Es kommt für eine rechtzeitige Mitteilung auf den rechtzeitigen Eingang bei der zuständigen Stelle an. Eine bestimmte Form ist dafür nicht vorgeschrieben:

Die „unverzügliche“ Anzeige eines Wechsels der Anschrift iSv § 10 I Hs. 2 AsylG liegt vor, wenn der Ausländer den Anschriftenwechsel bei den im Gesetz genannten Stellen binnen zwei Wochen, gerechnet ab dem tatsächlichen Umzugstag, angezeigt hat.

Die Anzeige nach § 10 I Hs. 2 AsylG ist formlos möglich.

Unser Rat für Sie

Sowohl Asylsuchende als auch Unterstützer:innen sollten darauf achten, dass die Adresse richtig und rechtzeitig dem Bundesamt mitgeteilt wird. Dies geschieht nur in den seltensten Fällen automatisch. Mit der neuen Linie aus Leipzig können aber vielleicht Verfahren noch gerettet werden, in denen der Bescheid noch an eine alte Adresse zugestellt wurde, bevor die Frist von zwei Wochen abgelaufen war.

Lassen Sie dies am besten von unseren Experten für Asylrecht im rechtskontor49 prüfen.

von Rechtsanwalt Timm Laue-Ogal

 

Karlruhe hat gesprochen: Wenn Behandlungsmethoden noch nicht hinreichend klinisch erprobt sind, gelten besonders strenge Anforderungen an die Patientenaufklärung. Man spricht in diesem Fall von einer Neulandmethode. Diese anzuwenden stellt nicht automatisch einen Behandlungsfehler dar. Aber der der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 18.05.2021 (VI ZR 401/19) klargestellt, worüber Patient:innen aufgeklärt werden müssen.

Worum ging es?

Einem Patienten wurde im Jahr 2011 eine neuartige Bandscheibenendoprothese aus Kunststoff implantiert. Dieses Produkt hatte zwar schon eine CE-Zertifizierung, es gab zu ihr es aber noch keine längerfristigen klinischen Studien.

Kurz nach der Operation des Klägers begann der Hersteller, eine Rückrufaktion durchzuführen. Bis 2014 rief er alle Prothesen dieses Typs zurück. Es war wiederholt zu Brüchen und Auflösungen an den Prothesen gekommen.
So auch beim Kläger in unserem Fall. 2014 traten bei ihm Schmerzen auf. Es wurde festgestellt, dass Teile des Prothesenkerns in den Spinalkanal gewandert waren. Die Prothese wurde operativ entfernt, durch einen Cage ersetzt und die Wirbelsegmente fixiert.

Der Hersteller der Prothese meldete Insolvenz an. Bei ihm war also nichts zu holen. Der Patient verklagte die Klinik und deren Behandler, die ihm die Bandscheibenendoprothese eingesetzt hatten. Er begründete dies damit, dass er nicht ordnungsgemäß über die Risiken dieser Neulandmethode aufgeklärt worden sei. Außerdem hätten die Operateure vor dem Eingriff schon Kenntnis von einer Information des Herstellers gehabt, mit der über Probleme mit dem Produkt berichtet wurde; es sei also auch behandlungsfehlerhaft gewesen, ihm die Prothese zu implantieren.

Was sagt der BGH?

Das höchste Zivilgericht des Landes hat schon mehrfach die Kriterien einer ordnungsgemäßen Aufklärung bei noch nicht allgemein anerkannten Behandlungsmethoden definiert. In seiner neuesten Entscheidung stellt es das Selbstbestimmungsrecht der Patienten erneut in den Mittelpunkt. Es sei auch darüber aufzuklären, dass der geplante Eingriff noch kein medizinischer Standard sei. Dabei müsse unmissverständlich verdeutlicht werden, dass die neue Methode unbekannte Risiken birgt, so der für Arzthaftung zuständige Senat des BGH. Der Patient müsse sorgfältig abwägen können, ob er sich lieber einer Standard-Methode mit den bekannten Risiken oder aber einer neuen Methode mit noch unbekannten Risiken unterziehen möchte.

Eine solche Risiko-Aufklärung hatten die Behandler im Fall des Patienten versäumt. Er berief sich deshalb darauf, dass der Eingriff mangels wirksamer Einwilligung rechtswidrig war und er dafür zu entschädigen sei.
Die Behandler behaupteten allerdings, der Patient wäre auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung mit der Operation einverstanden gewesen, wendeten also eine sog. „hypothetische Einwilligung“ ein. Das ist ein Einwand, mit dem eine missbräuchliche Berufung auf eine unzureichende Aufklärung nur zu Haftungszwecken unterbunden werden soll.

Anders als die Vorgerichte (LG Aurich, OLG Oldenburg) hielt der BGH diesen Einwand der Behandler aber für unerheblich. Landgericht und Oberlandesgericht hatten dem Patienten abgesprochen, bei vollständiger Aufklärung zumindest in einen Entscheidungskonflikt geraten zu sein.

Dem folgte der BGH nicht: Da dem Patienten vor der Operation nicht einmal mitgeteilt worden sei, dass es sich um eine Neulandmethode handelt, und da er bis zu seiner Anhörung im Prozess auch keine Information dazu erhalten hatte, worüber er aufzuklären gewesen wäre, seien seine Angaben großzügig zu bewerten. Wenn er in einem solchen Fall erklärt, sich nicht sicher gewesen zu sein, wofür er sich bei einer vollständigen Aufklärung entschieden hätte, dürfe nicht von einer hypothetischen Einwilligung ausgegangen werden.

Auch bei der Frage der Sorgfaltspflicht bei der Anwendung der neuen Bandscheibenprothese stellten sich die Karlsruher Richter auf die Seite des Patienten: Er hatte ein Schreiben des Herstellers aus dem Jahr 2014 vorgelegt, aus dem hervorging, dass die ersten Informationen über Probleme mit der Prothese bereits 2010 veröffentlicht wurden. Es sei deshalb Sache der Behandler darzulegen, seit wann sie Kenntnis davon hatten, so der BGH. Die Behauptung des Klägers, das sei zum Zeitpunkt seiner Operation im Jahr 2011 schon der Fall gewesen, hätten Klinik und Ärzte zu entkräften, ansonsten gelte sie als zugestanden. Deshalb hätten LG / OLG dem Antrag des Klägers auf Vernehmung des verantwortlichen Arztes zu dieser Frage nachkommen müssen. Das hatten sie abgelehnt und die Klage abgewiesen. Nun hat das OLG Oldenburg die Vernehmung nachzuholen, der BGH hat den Fall nämlich zur erneuten Verhandlung und Entscheidung dorthin zurückverwiesen.

Fazit

Mit seinem Urteil stärkt der BGH die Patientenrechte. In der Arzthaftung erkennt er Sonderregeln zur Beweislast und auch zur Darlegungslast an. An den Vortrag eines Patienten im Klageverfahren dürfen nur maßvolle Anforderungen gestellt werden, weil er regelmäßig weder die exakten Behandlungsabläufe kennen noch dasselbe medizinische Wissen aufbringen kann wie die Behandlerseite. Nur so ist eine Art „Waffengleichheit“ und damit auch ein faires Gerichtsverfahren gewährleistet. Dabei handelt es sich immerhin ein verfassungsrechtliches Gebot.

Was können Sie tun?

Sollte Ihnen als Patient*in empfohlen werden, sich einer neuartigen Behandlungsmethode zu unterziehen, verlangen Sie unbedingt eine vollständige Aufklärung über alle bislang bekannten und vor allem auch eventuell noch unbekannten Risiken. Natürlich können die Behandelnden hier mangels Vorliegens von Risiko-Studien nur mutmaßen, wo es Probleme geben könnte, aber gerade das muss seitens der Ärzteschaft klar und eindeutig kommuniziert werden.

Und wenn es schon zu spät ist?

Dann melden Sie sich bei uns. Rechtsanwalt Laue-Ogal, unser Fachanwalt für Medizinrecht, kümmert sich um Ihren Fall und zeigt Ihnen auf, welche Schritte möglich und erfolgversprechend sind. Der Fall des Patienten vor dem BGH wird nicht der letzte seiner Art gewesen sein.

von Rechtsanwalt Henning J. Bahr, LL.M.

 

Nun sag, wie hast Du’s mit der Religion?

Die „Gretchenfrage“ (J. W. Goethe, Faust I, Vers 3415)

 

Am 6.4.2022 hatte das Bundesverwaltungsgericht laut Pressemitteilung Nr. 22/2022 über folgenden Streit zu entscheiden:

Gegenstand des Verfahrens ist eine kommunale Zuwendung zum Erwerb eines Pedelecs nach der „Förderrichtlinie Elektromobilität“ der beklagten Stadt. Diese fordert eine „Schutzerklärung in Bezug auf die Lehre von L. Ron Hubbard/Scientology“, mit welcher die/der Antragsteller:in erklärt, die Lehre von Scientology nicht anzuwenden, nicht zu verbreiten und auch keine Kurse oder Seminare der Organisation zu besuchen. Diese Erklärung gab die Klägerin nicht ab, die Stadt versagte die Förderung. Das Verwaltungsgericht hat die Klage dagegen abgewiesen, der übergeordnete Verwaltungsgerichtshof hingegen im Berufungsverfahren Stadt verpflichtet, der Klägerin eine Förderzusage zu erteilen.

Diese oder ähnliche Programme zur Förderung des Radverkehrs gibt es in vielen Städten, so auch in Osnabrück für die Anschaffung von Lastenrädern.

Das Bundesverwaltungsgericht teilt die Einschätzung des Berufungsgerichts, dass die Förderung nicht von der Abgabe der geforderten Erklärung abhängig gemacht werden darf. Zuwendungen und Förderungen dürfen die Kommunen – zu denen auch die beklagte Stadt gehört – nur im Rahmen der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft gewähren, innerhalb dessen sie geschützt von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) in eigener Verantwortung tätig wird.

Dieser Rahmen werde überschritten, wenn die Kommune wie hier für die Bewilligung einer Zuwendung eine Distanzierungserklärung von welcher weltanschaulichen Ausrichtung auch immer verlangt. Dies greife in die Religionsfreiheit gem. Art. 4 GG ein, ohne dass es hierfür eine gesetzliche oder verfassungsrechtliche Rechtfertigung gebe. Außerdem sei die (Nicht-)Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder Weltanschauung im Sinne des Gleichheitsgrundrechts ein unzulässiges Differenzierungskriterium. Es bestehe kein Zusammenhang mit dem Förderungszweck.

Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist zu begrüßen, gleichgültig wie man zur Church of Scientology steht. Denn grundsätzlich könnte ansonsten jede Religion von derartigen Förderungen ausgeschlossen oder bestimmte Weltanschauungen bevorzugt werden. Dies ist mit einem säkularen Staat nicht vereinbar – umso überraschender ist es, dass dies einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts bedurfte und es innerhalb der Instanzen wenigstens das erstinstanzliche Verwaltungsgericht gab, das der beklagten Stadt recht gegeben hat!

 

von Rechtsanwalt Burkhard Wulftange

 

Ein aktueller Vorschlag aus Teilen der Lokalpolitik der Stadt Osnabrück sieht vor, die Windthorststraße in Osnabrück zwischen der Kreuzung Weberstraße und dem Ortsausgang zu einer Fahrradstraße zu machen. Die aktuelle rot–grün–violette Ratsmehrheit steht der Umgestaltung der Windthorststraße zur Fahrradstraße allerdings eher kritisch gegenüber und hat sich erst einmal gegen eine kurzfristige Umsetzung entschieden.

Diese Debatte bietet Anlass dazu, sich auch aus juristischer Sicht mit Fahrradstraßen auseinanderzusetzen und die Argumente für oder gegen die Umwidmung der Windthorststraße zur Fahrradstraße näher zu beleuchten

Juristische Einordnung: Echte und unechte Fahrradstraße

Fahrradstraßen sind zunächst einmal Straßen, die Radfahrern durch bestimmte Einschränkungen des sonstigen Verkehrs einen besonderen Schutz bieten sollen. Nach § 43 Abs. 1 StVO in Verbindung mit dem Anhang 2 Nr. 23 dürfen nur Radfahrer, sowie Elektrokleinstfahrzeuge die Straße benutzen und Radfahrer erhalten das Privileg Nebeneinander zu fahren. Dies stellt den Fall einer echten Fahrradstraße dar. Die Windhorststraße soll entsprechend dem Vorschlag von CDU und BOB allerdings eine sog. unechte Fahrradstraße werden, in der weiterhin Kraftfahrzeuge zugelassen sein sollen. Dieser Verkehr darf ausnahmsweise durch die Anordnung entsprechender Zusatzzeichen zugelassen werden (z. B. Anliegerverkehr oder Kraftfahrzeugverkehr frei). Die Kraftfahrer dürfen sich dann mit einer maximalen Geschwindigkeit von 30 km/h fortbewegen und müssen sich an schmalen Stellen an das Tempo der Fahrradfahrer anpassen, wenn diese nicht sicher überholt werden können.

Eine Fahrradstraße wird dabei begründet durch die Aufstellung des Verkehrszeichens Nr. 244.1, dessen Abbildung im Anhang 2 Nr. 23 StVO zu finden ist. Dieses Verkehrszeichen darf aber nur aufgestellt werden, wenn es aufgrund der Umstände vor Ort unbedingt erforderlich ist, § 45 Abs. 1 und Abs.9 StVO. Wie aber ist das Kriterium der Erforderlichkeit zu deuten? Das VG Berlin hat 05.12.2018 in einem Urteil (Az: 11 K 298.17) ausgeführt, dass eine Fahrradstraße erforderlich sei, wenn eine nur geringe Fahrbahnbreite vom 4,60 m vorliege, da hier die allgemeinen Verkehrsregeln, sowie das Rücksichtnahmegebot aus § 1 Abs. 1 StVO nicht ausreichend seien, um einen Fahrradfahrer zu schützen. Das VG Leipzig verweis auf § 45 Abs.9 S.2 StVO und sieht eine Beschränkung des Verkehrs im Sinne einer Fahrradstraße als erforderlich an, wenn ein aufmerksamer Verkehrsteilnehmer nicht in der Lage ist eine Gefahrensituation zu erkennen (VG Leipzig, BeckRS 2021, 43829, Rn. 29). Die Erforderlichkeit einer Fahrradstraße entfällt dann, wenn die mit der Anordnung derselbigen bezweckten Wirkungen, auch aufgrund der allgemeinen [z.B. § 1 Abs. 1 StVO] und besonderen Verhaltensregeln erreicht werden können (BVerwG vom 01.09.2017, 3 B 50/16). Letzten Endes bleibt es dabei, dass anhand dieser Kriterien eine Prüfung der Sachlage im Einzelfall zu erfolgen hat.

Wird nach Ansicht der Behörde eine Fahrradstraße für erforderlich gehalten, hat sie ein sogenanntes Ermessen, ob sie eine echte oder unechte Fahrradstraße anordnen möchte. Im Ermessen, welches inhaltlich einer Abwägung der Gesamtsituation entspricht, sind Verwaltungsvorschriften der VwV-StVO 2021 zu den Zeichen 244.1 und 244.2 zu berücksichtigen. Es muss eine hohe Anzahl an Fahrrädern die Straße benutzten und die Straße muss für den übrigen Fahrzeugverkehr eine eher untergeordnete Bedeutung haben. Gleichzeitig müssen die Interessen des Fahrzeugverkehrs berücksichtigt werden.

Soweit zur rechtlichen Einordnung.

Für und Wider einer unechten Windthorst-Fahrradstraße

Welchen tatsächlichen Nutzen und Mehrwert ergäbe sich daraus dann ganz konkret für Radfahrer, wenn die Windthorststraße zu einer unechten Fahrradstraße werden sollte? Die grundsätzlichen Vorteile einer Fahrradstraße sind nicht von der Hand zu weisen, schließlich räumen sie den Fahrradfahrern zumindest in der Theorie eine erhöhte Sichtbarkeit und Sicherheit im Straßenverkehr ein. Doch kann die Einrichtung der Windthorstsraße zur unechten Fahrradstraße geeignet sein, die Situation für Fahrradfahrer auch in der Praxis verbessern? Die Gefährdungen entstehen an der Windthorststraße jedenfalls nicht vorrangig durch waghalsige Überholmanöver von Autofahrern im Rahmen des Durchgangsverkehrs. Das Problem ist vielmehr die enge Parkplatzsituation, die durch die sogenannten „Elterntaxis“ vor den Schulen und Kindergärten in der Straße ausgelöst wird. Die größte Gefahr für Radfahrer ergibt sich dabei aus Wendemanövern und mehr oder weniger straßenverkehrsgerechten Versuchen, einen Parkplatz zu ergattern, bei denen Fahrradfahrer (und auch Fußgänger) übersehen werden.

Darüber hinaus zeigt die Erfahrung mit der Umwidmung der Lyrastraße in Osnabrück zur unechten Fahrradstraße keine durchgreifende Verbesserung der Sicherheit für Radfahrende. Dort ist jedenfalls zu den Stoßzeiten keine besondere Rücksichtnahme gegenüber Radfahrenden festzustellen. Auch als Radfahrender ist man dort im Blechstau gefangen oder wird durch unzulässige Überholmanöver gefährdet. Entsprechend wenig Veränderung ist daher auch an der Windthorststraße zu erwarten. Auch dort wird allein die Einrichtung einer unechten Fahrradstraße kaum dazu führen, das Verhalten der Elterntaxis nachhaltig zu verbessern.

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass es zwar absolut lobenswert ist, über Verbesserungen der Sicherheit der Radfahrer auch und vor allem an der Windthorststraße nachzudenken. Ob allerdings die Einrichtung einer unechten Fahrradstraße geeignet ist, die gewünschte Verbesserung zu erreichen, darf daher bezweifelt werden. Möglicherweise wären aber mehr Eltern bereit, auf ihre Taxidienste zu verzichten, wenn ihren Kindern ein wirklich sicherer Schulweg zu Fuß oder auch mit dem Rad auf dem Weg zur Schule zur Verfügung stehen würde, und zwar auf der gesamten Wegstrecke und nicht nur auf den letzten 500 Metern.

von Rechtsanwalt Dustin Hirschmeier

 

Das Arbeitsgericht Berlin (Urteil vom 26.04.2022 – Az. 58 Ca 12302/21) hat entschieden, dass die fristlose Kündigung eines Arbeitgebers wirksam ist, wenn diese wegen der Vorlage eines gefälschten Impfnachweises ausgesprochen wird.

Hintergrund

Ein Beschäftigter der Justiz hatte einen Nachweis gegenüber seinem Arbeitgeber vorgelegt, aus dem ersichtlich war, dass er den Genesenenstatus (Covid-19) erfüllte. Zu diesem Zeitpunkt sah § 28 Abs. 1 IfSG vor, dass ein Impfnachweis, Genesenennachweis oder ein tagesaktueller Schnelltest vorgelegt werden musste, um Zugang zu dem Gerichtsgebäude (Arbeitsstelle) zu erhalten, wenn an der Arbeitsstätte Kontakte zu anderen nicht auszuschließen waren. Der vorgelegte Nachweis erwies sich als Fälschung.

Die gerichtliche Begründung

Das Arbeitsgericht Berlin hat die fristlose Kündigung des Arbeitgebers als rechtswirksam anerkannt. Das Arbeitsgericht unterstrich, dass es bei den vorzulegenden Nachweisen um den Gesundheitsschutz für alle anwesenden Personen in dem Gebäude ginge. Derjenige, der diesen Schutz durch die Vorlage eines gefälschten Nachweises umginge, gefährdet den Gesundheitsschutz für die anderen Anwesenden in erheblichem Maße. Dies stellte eine erhebliche Verletzung arbeitsvertraglicher Rücksichtnahmepflichten dar, die eine fristlose Kündigung – auch ohne vorherigen Ausspruch einer Abmahnung – rechtfertige.

Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig.

Einordnung

Das Arbeitsgericht Berlin stimmt mit der Entscheidung anderen Arbeitsgerichten zu, die bereits in ähnlichen Konstellationen entschieden haben. Das Arbeitsgericht Köln hat mit Urteil vom 23.03.2022 – 18 Ca 6830/21 – bereits entschieden, dass die fristlose Kündigung nach Vorlage eines gefälschten Impfpasses wirksam sei. Mit Urteil vom 17.06.2021 – 12 Ca 450/21 – hat das Arbeitsgericht Köln die fristlose Kündigung eines Arbeitnehmers im Außendienst (nach erfolgloser Abmahnung) für rechtmäßig anerkannt, nachdem dieser sich weigerte eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen.

Das Arbeitsgericht Gießen hat mit Urteil vom 12.04.2022 – 5 Ga1/22 und 5 Ga 2/22 – entschieden, dass ein Beschäftigter im Pflege- und Gesundheitssektor, der sich nicht impfen lassen möchte, aber auch nicht darüber täuscht, freigestellt werden darf.

Es bleibt weiter abzuwarten, wie die Instanzgerichte entscheiden werden. Insbesondere vor dem Hintergrund der kürzlich ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Vorgaben aus §§ 20a, 22a IfSG ist mit weiteren Streitigkeiten vor den Arbeitsgerichten zu rechnen.

Wir werden diese Entwicklung für Sie verfolgen und an dieser Stelle informieren.

von Rechtsanwalt Henning J. Bahr

 

In einem Schwimmbad in Göttingen wurde ein Hausverbot verhängt – ein Skandal war geboren und löste eine öffentliche Diskussion aus. Denn die betroffene Person trug nur eine Badehose, so dass ihre Brüste deutlich sichtbar waren. Seit dem 1. Mai ist nun bis zum 31. August an den Wochenenden das Oben-ohne-(Sonnen)-Baden erlaubt – für alle Geschlechter.

Doch wie ist die Rechtslage? Wer untersagt Nacktheit im Freibad, im Park oder im Wald?

Anlass für diesen Beitrag war ein Interview mit dem MDR Thüringen Radioformat „Der Reporter“. Den Beitrag von Thomas Becker kann man hier nachhören.

Exhibitionistische Handlungen

§ 183 StGB bestimmt, dass belästigende exhibitionistische Handlungen eines Mannes strafbar sind, also die von einer anderen Person ungewollte Entblößung der männlichen Geschlechtsteile mit dem Ziel, sich selbst sexuell zu erregen. Dort steht also vor allem die Belästigung durch eine aufgedrängte Konfrontation unter Strafe. Die Vorschrift birgt viele Probleme – gerade auch wegen ihrer Beschränkung auf Männer. Sie betrifft zudem nicht den Konflikt in Göttingen und beantwortet auch viele andere Fragen um das Nacktsein in der Öffentlichkeit nicht. Daher soll von einer weiteren Betrachtung abgesehen werden.

Ordnungswidrigkeit

Ansonsten spielen sich derartige Fragen im Umfeld des § 118 Abs. 1 des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG) ab:

Ordnungswidrig handelt, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen.

Es handelt sich um eine sogenannte Generalklausel, die nicht ausdrücklich geschaffen wurde, um Nacktheit zu sanktionieren. Vielmehr ist dies der ordnungswidrigkeitenrechtliche Auffangtatbestand, der vor allem existiert, um unerwünschtes Verhalten zu erfassen, ohne dieses genau bestimmen zu müssen. Deshalb ist die Vorschrift auch verfassungsrechtlich nicht unproblematisch und muss zurückhaltend ausgelegt werden.

Erforderlich sind drei gemeinsam auftretende Tatbestandsmerkmale:

  • eine grob ungehörige Handlung, also ein aktives Tun, das nach sittlichen Maßstäben sehr anstößig ist,
  • die Eignung zur Belästigung oder Gefährdung der Allgemeinheit und zur Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung, ein entsprechender Erfolg muss also nicht eintreten.

Die Orientierung an sittlichen Maßstäben setzt voraus, dass ein breiter Konsens darüber herrscht, ein bestimmtes Verhalten als unerwünscht und damit „ungehörig“ einzustufen. Dabei geht es nicht darum, dass durch die Handlung selbst bereits ein Schaden entsteht, diese muss nur allgemeingültigen sittlichen Vorstellungen widersprechen.

Ob (teilweise) Nacktheit hierunter zu fassen ist, hängt gerade wegen der sittlichen Dimension vom Kontext ab und ist in einer Sauna offensichtlich anders zu beurteilen als in einer Fußgängerzone, in einem sommerlichen Freibad anders als im Kölner Dom zur Weihnachtsmesse. OLG Karlsruhe hat hierzu bereits im Jahr 2000 (Urteil vom 4.5.2000, AZ: 2 Ss 166/99) ausgeführt:

Wer sich unbekleidet auf öffentlichen Straßen und in öffentlichen Anlagen, in denen die Begegnung mit nackten Menschen nicht zu erwarten ist, in einer Weise aufhält, daß er anderen Benutzern den Anblick seines nackten Körpers aufdrängt, handelt ordnungswidrig iSv § 118 OWiG.

Das Hausrecht des Freibades

Das „Oben ohne“-Sonnen in einem Freibad erfüllt wahrscheinlich für sich genommen nicht den Tatbestand der Ordnungswidrigkeit, entscheidend kommt es daher auf die Haus- und Badeordnung des Freibadbetreibers an.

Dabei sind vor allem kommunale Einrichtungen an die verfassungsmäßige Ordnung und damit an den Gleichheitsgrundsatz gebunden. Dieser verbietet, wesentlich Gleiches ungleich und wesentlich Ungleiches gleich zu behandeln. Private Betreiber von Bädern und Saunen mögen in ihrer Entscheidung freier sein, wen Es beginnt sich offenbar der Standpunkt durchzusetzen, dass es eine wesentliche Ungleichbehandlung ist, allein Männern (Sonnen-)Baden in Badehose ohne Bedeckung der Brust zu gewähren. Unabhängig davon, wie man diese Frage bewertet, zeichnet die Entscheidung der Stadt Göttingen letztlich nur eine gesellschaftliche Entwicklung nach. Nacktheit, insbesondere aber auch sehr körperbetonte Kleidung, haben in den vergangenen Jahren mehr und mehr den öffentlichen Raum erobert. Es ist vor diesem Hintergrund kaum noch zu erklären, weswegen es zwar in Ordnung sein soll, Abbildungen nackter Körper bzw. Körperteile über Medien allgegenwärtig verfügbar zu machen, aber das Entblößen einer weiblichen Brust in einem Schwimmbad aber zu verbieten. Vergleichbar schwer nachvollziehbar ist es, das Stillen von Säuglingen im öffentlichen Raum als anstößig anzusehen.

Nacktheit in der Rechtsprechung

In der Rechtsprechung ist die Frage des Nacktseins wiederholt thematisiert worden. So besteht kein Kündigungsgrund gegen einen Mieter, der sich auch exzessiv lange nackt im Garten sonnt (Amtsgericht Merzig im Urteil vom 5.8.2005, AZ: 23 C 1282/04). Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hat allerdings bereits das Verbot einer Nackt-Radfahr-Demonstration als zulässig angesehen, weil es dabei gerade um das anstößige Verhalten zur Erregung von Aufmerksamkeit gehe (Urteil vom 7.6.2005, AZ: 6 K 1058/05). Mit der oben bereits genannten Entscheidung hat das OLG Karlsruhe das Nackt-Joggen an öffentlichen Plätzen als ordnungswidrig angesehen. Im abgelegenen Wald oder an einem einsamen Bergsee wiederum wird es kaum jemanden geben, der sich angestoßen fühlt.

Nackt Autofahren ist ebenfalls an sich rechtlich unproblematisch – sofern die Vorschriften der Arbeitssicherheit nicht entgegenstehen und das Auto sicher geführt werden kann. Allerdings dürfte es beim Aussteigen auf dem Parkplatz des örtlichen Einkaufszentrums wiederum zu den og. Problemen kommen. Auch ein durch ein einsehbares Fahrzeug (zB. aus einem LKW von oben) von einem abgelenkten Fahrer verursachter Unfall würde möglicherweise zu einer Mithaftung wegen der aufsehenerregenden Fahrweise führen.

Das alles ändert aber nichts daran, dass der Anlass – Oben-ohne-Sonnen im Freibad – nicht schwerwiegend genug sein sollte, um im Jahr 2022 eine solche Debatte auszulösen. Gut, dass sie dennoch geführt wird!

Verwaltungsgericht Osnabrück fällt erste Urteile über Asylverfahren betreffend Afghanistan in 2022.

Im Oktober 2021 haben wir in der ersten Ausgabe des „Fokus Migrationsrecht“ unter anderem über die Entwicklung in Afghanistan berichtet. Das Land kommt auch nach der Machtübernahme im August 2021 nicht zur Ruhe. Während die Taliban ihre Macht festigen, schwinden die Rechte der Menschen, gerade von Frauen, beständig. Zudem kommen Streitigkeiten unter den radikalen Islamisten auf: Der immer wieder mit den Taliban um die Vorherrschaft ringende sogenannte „Islamische Staat“ (IS bzw. DAESH) will sich in Afghanistan ebenfalls eine neue Basis schaffen und den eigenen Einfluss ausbauen. Die Folge des Machtkampfes sind schreckliche Anschläge auf Moscheen in Masar-i-Sharif und in Kabul und nördlich von Kundus sowie eine Schule in der Hauptstadt allein in den letzten Tagen mit über 60 Toten und zahlreichen Verletzten.

Denoch vermag das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) diese neue Sachlage bis heute kaum abschließend zu bewerten und in entsprechende neue Entscheidungen umzusetzen. Auch die Verwaltungsgerichte haben zunächst die unübersichtliche Lage in Afghanistan zum Anlass genommen, laufende Verfahren nicht zu entscheiden. Inzwischen hat sich aber auch das Verwaltungsgericht Osnabrück erstmals nach der Machtübernahme durch die Taliban in mehreren Entscheidungen nach mündlichen Verhandlungen am Montag, 25.4.2022, geäußert und damit seine grundsätzliche Haltung zu diesem Thema öffentlich gemacht.

In einem von Rechtsanwalt Burkhard Wulftange geführten Klageverfahren gegen eine ablehnende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hat das Verwaltungsgericht Osnabrück für einen erwachsenen Mann aus Afghanistan nun Abschiebungsverbote festgestellt. In einem durch Rechtsanwalt Henning J. Bahr geführten Verfahren um einen sogenannten Asylfolgeantrag (also nach einem zuvor bereits negativ ausgegangenen Verfahren) aus dem Jahr 2020 hatte das BAMF eine erneute Prüfung vollständig abgelehnt. Diesen Bescheid hat das Gericht aufgehoben und die Angelegenheit damit an die Behörde zurückgegeben. Es hat festgehalten, dass die veränderte Lage eine vollständige Neubewertung dessen, was der Kläger vorträgt, erforderlich ist.

Das Gericht hat damit endgültig seine in den letzten Jahren überaus harte Rechtsprechung bezüglich der Schutzbedürftigkeit erwachsener Männer aus Afghanistan zu Recht geändert. Nach der Machtübernahme der Taliban in dem asiatischen Land kann niemand mehr ernsthaft davon ausgehen, dass dort ein menschenwürdiges Leben möglich ist. Die Lage war dort zuvor schon katastrophal. Seit Jahren wurde Familien mit Kindern und auch alleinstehenden Frauen regelmäßig Schutz gewährt. Nun ist praktisch bundesweit anerkannt, dass man in ein Land, das von Armut, Pandemie und jahrzehntelangem Krieg gebeutelt ist und nun auch noch von religiösen Fanatikern kontrolliert wird, niemanden mehr abschieben kann, wenn man das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung aus Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ernst nimmt.

Denn § 60 Absatz 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) verbietet es, Menschen durch eine Abschiebung in die Gefahr einer solchen Behandlung zu versetzen.

Nachdenklich stimmen muss allerdings, dass auch noch wenige Wochen vor der Übernahme der Regierung durch die Taliban Menschen nach Afghanistan abgeschoben wurden, deren Schicksal vollkommen ungewiss ist.