Das Bundesverwaltungsgericht hatte über die Frage zu entscheiden, wann ein Elternteil im Sinne des Unterhaltsvorschussgesetzes (UhVorschG) als alleinerziehend gilt.

Den Urteilen (vom 12.12.2023 – 5 C 9.22 u. 5 C 10.22) zugrunde liegen Klagen auf Unterhaltsvorschuss gegen den getrenntlebenden anderen Elternteil der gemeinsamen Kinder. Sowohl das Verwaltungs- als auch das Oberverwaltungsgericht haben die Voraussetzungen des Unterhaltsvorschusses nicht als erfüllt angesehen, da der Vater, der keinen Barunterhalt zahlte, zu den Schulzeiten einen zeitlichen Anteil von 36% an der Betreuung der Kinder übernahm.

Anspruch auf Unterhaltsvorschuss oder -ausfallleistung nach diesem Gesetz (Unterhaltsleistung) hat, wer … bei einem seiner Elternteile lebt, der ledig, verwitwet oder geschieden ist oder von seinem Ehegatten oder Lebenspartner dauernd getrennt lebt

§ 1 Abs. 1 Nr. 2 UhVorschG

 

Das Bundesverwaltungsgericht legte die Voraussetzung, nach welchem das Kind „bei einem seiner Elternteile lebt“ anhand ihres Zwecks aus. Der besonders belastete Elternteil solle entlastet werden, bei welchem „der Schwerpunkt der Betreuung ganz überwiegend“ liegt. Dieser Schwerpunkt ist nach der neuen Entscheidung erreicht, sobald ein Elternteil mindestens 60% der Betreuung übernimmt, sodass es ab da als „alleinerziehend“ gilt und ein Unterhaltsvorschuss zu zahlen ist.

Sie gehen von einem Anspruch auf Unterhaltsvorschuss gegen die zuständige Behörde aus? Wenden Sie sich an unsere Expertin Stephanie C. Eggert, um Hilfe zu erhalten.

von Rechtsanwalt Dustin Hirschmeier

 

Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hat sich im Eilverfahren zu der Frage geäußert, unter welchen Voraussetzungen die Ausbildungsdauer i. S. d. § 43 Abs. 1 Nr. 1 BBiG zurückgelegt ist. Die Entscheidung ist von Relevanz für die Frage, ob Auszubildende die Voraussetzung der Zulassung zur Abschlussprüfung erfüllen.

Die Richter stellten dabei klar, dass der bloße kalendarische Ablauf der Ausbildungszeit nicht ausreichend sei, um zur Abschlussprüfung zugelassen zu werden. Zur Begründung führte der Senat aus, dass das aus § 1 Abs. 3 S. 1 BBiG zu entnehmende Ausbildungsziel der beruflichen Handlungsfähigkeit nur dann zu erreichen, wenn eine tatsächliche Ausbildung erfolgt ist. Fehlzeiten (gleich ob viele oder geringe) stellen nach Auffassung des OVG dabei nur ein Indiz dar. Maßgeblich ist stets im Einzelfall die in den Ausbildungsordnungen vorgesehene konkrete Ausbildungsdauer. Dies sei eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers gewesen, der eine normative Regelung von Fehlzeiten in § 43 BBiG gerade nicht vorgenommen hat.

Es hat eine Beurteilung der Ausbildungsziele stets am konkreten Einzelfall zu erfolgen. Dabei kann zu berücksichtigen sein, wenn Fehlzeiten sich im letzten Ausbildungsabschnitt ereignen die Ausbildungsziele dieses Abschnitts jedoch bereits in einem vorherigen Ausbildungsabschnitt erworben wurden. Demgegenüber können auch geringe Fehlzeiten gegen die Zurücklegung der Ausbildungsdauer sprechen, wenn in diesen Fehlzeiten etwa besonders relevante Ausbildungsziele vermittelt wurden. Diese Auslegung folge aus dem Rechtsgedanken, den der Gesetzgeber in § 45 Abs. 1 und Abs. 2 S. 3 BBiG zum Ausdruck gebracht hat (OVG Lüneburg, Beschl. v. 25.05.2023 – 2 ME 32/23, Rz. 5).

Haben Sie konkrete Fragen zum Ausbildungsabschluss oder zur Abschlussprüfung? Sprechen Sie uns gern an.

 

 

von Rechtsanwalt Dustin Hirschmeier

 

Anforderungen an die Bestimmtheit einer Beschränkung der Versammlungsfreiheit – „Auf der Straße festkleben“ vor dem OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.04.2023 – OVG 1 S 33/23.

14 Abs. 1 Versammlungsfreiheitsgesetz Berlin bestimmt, dass die zuständige Behörde die Durchführung einer Versammlung unter freiem Himmel beschränken oder verbieten kann und die Versammlung nach deren Beginn auflösen kann, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Maßnahmen erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist.

Der Antragstellerin wurde untersagt, sich im Zuge von Versammlungen unter freiem Himmel im Stadtgebiet Berlin

„ab Zustellung des Bescheids für die Dauer bis zum 01.06.2023“ auf den Fahrbahnen und Sonderwegen zwischen den Bordsteinen der Straßen des übergeordneten Straßennetzes festzukleben, einzubetonieren oder in ähnlicher weise dauerhaft mit der Fahrbahn zu verbinden sowie sich dort an andere Personen oder Gegenstände festzukleben, anzuketten oder in ähnlicher Weise dauerhaft zu verbinden.

Im Eilverfahren hatte das OVG nun mit Beschluss vom 28.04.2023 den vorherigen Beschluss des VG Berlin bestätigt. Danach war das konkrete ausgesprochene Verbot hinsichtlich des räumlichen Bereichs zu unbestimmt und damit rechtswidrig. Das OVG machte deutlich, dass aus der Formulierung in der Verfügung „übergeordneten Straßennetzes“ nicht eindeutig erkennbar sei, was konkret von dem Verbot betroffen sei. Insbesondere könne weder von dem Betroffenen noch von etwaigen Vollstreckungsorganen verlangt werden dahingehend selbst die Bestimmtheit der getroffenen Verbotsverfügung zu ermitteln. Die verfügende Behörde hatte weder im Bescheid noch in den zugehörigen Anlagen eine Konkretisierung bspw. durch Aufzählung der erfassten Straßen vorgenommen. Weil die Regelungen einen intensiven Eingriff in die Grundrechtsposition des Adressaten bedeutet, war die Verfügung zu unbestimmt und damit rechtswidrig.

Der Beschluss ist unanfechtbar.

von Rechtsanwalt Dustin Hirschmeier

 

Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 14.03.2023 – 3 LD 7/22 (zuvor VG Hannover vom 28.04.2022 – 18 A 3735/21) die Berufung eines Kriminalhauptkommissars zurückgewiesen, mit der sich der Berufungskläger gegen die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis nach erfolgter Disziplinarklage der Polizeidirektion gewendet hatte. In erster Instanz hatte das VG Hannover die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis bestätigt.

Im konkreten Fall hatte der Polizeibeamte die rechtliche Existenz der Bundesrepublik Deutschland in Abrede gestellt. Nach Auffassung des VG und auch des OVG stellt dies eine schulhafte Verletzung der Verfassungstreuepflicht i. S. d. § 33 Abs. 1 S. 3 Beamtenstatusgesetz dar. Darüber hinaus hatte sich der Polizeibeamte in seiner Freizeit in öffentlichen Redebeiträgen dergestalt ausgelassen, dass er Verschwörungstheorien verbreitet hatte. Die konkreten Meinungsäußerungen haben dabei die Grenze sachlicher Kritik überschritten.

Bei der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis handelt es sich um die schwerste „Sanktion“ im Disziplinarrecht. § 11 NdDizG. § 14 NDiszG bestimmt, dass bei der Entscheidung über eine Disziplinarmaßnahme pflichtgemäßes Ermessen auszuüben ist. Die gewählte Sanktion muss dementsprechend verhältnismäßig sein. Dabei sind im Rahmen einer Prognoseentscheidung sowohl die Pflichtverletzung und deren Auswirkungen auf das Dienstverhältnis als auch die Auswirkungen auf das Ansehen gegenüber der Allgemeinheit zu berücksichtigen. Dies ist Ausfluss der besonderen Rechts- und Pflichtenstellung des Beamten, Art. 33 GG.

Der Beamte hatte sich nach Auffassung des Senats widerholt aktiv gegen die verfassungsmäßige Ordnung gewandt. Weil er damit gegen die Kernpflichten als Beamter verstoßen habe, sah der Senat die Verhängung der höchsten Sanktion als gerechtfertigt an. Die Entscheidung des OVG ist rechtskräftig.

Die Entscheidung unterstreicht die besondere Pflichtenstellung aller Beamten. Ebenfalls unterstreicht die Entscheidung, dass diese besondere Pflichtenstellung auch mit besonderen Verhaltenspflichten von Beamten in der Freizeit außerhalb des Dienstes einhergeht. Gleichzeitig wird durch die Entscheidung des OVG deutlich, dass auch die höchste Sanktion, die das Disziplinarrecht vorsieht, unmittelbar verhängt werden kann, auch wenn zuvor noch keine Dienstvergehen zu beklagen waren.

Über eine ähnliche Entscheidung und weitere Informationen zu diesem Problemkreis berichten wir hier: Bundesverwaltungsgericht beendet Beamtenverhältnis

 

von Rechtsanwalt Dustin Hirschmeier

 

Gleichbehandlung, Equal Pay und geschlechtergerechte Vergütung – in der Praxis kommt es dennoch immer wieder zu der Situation, dass zwischen den Geschlechtern doch andere Vergütungshöhen zu beobachten sind. Neben sachlichen Kriterien haben Arbeitgeber hierzu in der Vergangenheit häufig eine individuelle Verhandlung als rechtfertigendes Element für einen Gehaltsunterschied angegeben. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat im Urteil vom 16.02.2023 – 8 AZR 450/21 – zu dieser Verhandlungsoption Stellung bezogen.

Die Entscheidung

Der Umstand, dass eine Beschäftigte für die gleiche Arbeit ein niedrigeres Grundgehalt erhält wie ein Beschäftigter des anderen Geschlechts begründet die Vermutung i. S. d § 22 AGG, dass diese Benachteiligung aufgrund des Geschlechts erfolgt sei. Diese Vermutung konnte die Beklagte im Verfahren nicht widerlegen.

Nicht ausreichend ist dabei die Begründung (für den Gehaltsunterschied), dass ein Kollege besser und geschickter verhandelt habe. Auch dass der in diesem Fall männliche Beschäftigte auf eine ausgeschiedene weibliche Kollegin nachfolgte, die ebenfalls ein höheres Entgelt verdiente reichte nach den Ausführungen des 8. Sentas nicht für eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung aus.

Die Bedeutung für Sie

Sowohl Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen als auch Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen sollten im Falle von Gehaltsunterschieden zu Kollegen genau überprüfen, worin diese Unterschiede begründet sein können. Das Bundesarbeitsgericht macht deutlich, dass die Vermutungswirkung freilich widerlegt werden kann. Gleichzeitig zeigt der Senat deutlich auf, dass die Anforderungen an eine entsprechende Rechtfertigung hoch sind. Pauschale Begründungen dürften hier in Zukunft nicht mehr ausreichen, sodass Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen in der Vergütungsstruktur auf einheitliche Standards und nachvollziehe Differenzierungskriterien achten sollten.

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollten nach dieser Entscheidung genau schauen, ob objektive Kriterien eine ungleiche Bezahlung rechtfertigen oder ob derartige Umstände nicht ersichtlich sind.

Wenden Sie sich an unsere Experten im Arbeitsrecht, wenn Sie Fragen haben, und melden Sie sich direkt per Mail, Telefon oder Whatsapp.

Die rechtlichen Grundlagen

Art. 157 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union)

„Jeder Mitgliedstaat stellt die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicher.“

Dieser Vorgabe ist die Bundesrepublik Deutschland u. a. in § 1 AGG und § 3 EntgTranspG (Gesetz zur Förderung der Entgelttransparenz zwischen Frauen und Männern) nachgekommen. In § 3 Abs. 1 EntgTranspG heißt es:

„Bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit ist eine unmittelbare oder mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts im Hinblick auf sämtliche Entgeltbestandteile und Entgeltbedingungen verboten.“

§ 7 EntgTranspG konkretisiert:

„Bei Beschäftigungsverhältnissen darf für gleiche oder für gleichwertige Arbeit nicht wegen des Geschlechts der oder des Beschäftigten ein geringeres Entgelt vereinbart oder gezahlt werden als bei einer oder einem Beschäftigten des anderen Geschlechts.“

Haben Sie hierzu konkrete Fragen? Sprechen Sie uns gerne an.

von Rechtsanwalt Henning J. Bahr

 

Spezialitätenköche aus dem Ausland können für Ihre Tätigkeit in entsprechenden Restaurants Visa als Fachkräfte erhalten. Es muss sich dabei um ein Angebot nach Rezepten und Herstellungsweisen aus dem Herkunftsland handeln, das die landestypischen Gerichte möglichst unverfälscht wiedergibt. Das Verwaltungsgericht Berlin hat nun entschieden, dass ein Döner-Imbiss keine solche Arbeitsgelegenheit in einem Spezialitätenrestaurant ist (Urteil vom 22.12.2022 – VG 14 K 139.19 V).

Das Gericht hatte zwar auch Zweifel daran, ob Döner und Pizza überhaupt als landestypische und unverfälschte Gerichte der türkischen Küche sind. Entscheidend war hier aber, dass ein imbisstypischer Verkauf zur Selbstbedienung oder Mitnahme ohne Service und mit begrenzten Sitzgelegenheiten vor Ort schon kein Restaurant im Sinne der Vorschriften darstellt.

Das Urteil zeigt, dass es auch angesichts des Fachkräftemangels nicht sinnvoll ist, sich bei dem Verständnis einer Vorschrift allein auf das eigene Vorstellungsvermögen zu verlassen. Beauftragen Sie besser einen Experten für Migrationsrecht mit der Beratung und Beurteilung, ob ein Visumverfahren erfolgversprechend ist – auch wenn Ihnen möglicherweise nicht jede Antwort gefällt.

von Rechtsanwalt Timm Laue-Ogal

 

In einem kürzlich veröffentlichten Urteil hat der Bundesgerichtshof (BGH) seine bisherige Ansicht zum sogenannten Schockschaden aufgegeben (Urteil vom 06.12.2022 – VI ZR 168/21). Die Anspruchsvoraussetzungen dafür werden künftig erheblich abgesenkt. Personen, die nach einem Ereignis unter Schock stehen, bei dem Nahestehende verletzt wurden, haben damit künftig eher die Chance, für ihr Leiden vom Schädiger eine Kompensation zu erhalten. 

Was galt bisher beim Schockschaden?

Bisher hatte die Rechtsprechung für die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes bei einem Schockschaden eine besondere Voraussetzung aufgestellt: Die pathologisch fassbare psychische Beeinträchtigung des Geschädigten musste über die gesundheitlichen Probleme hinausgehen, die man beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel erleidet (so z.B. BGH, Urteil vom 21. Mai 2019 – VI ZR 299/17; auch noch OLG Celle, Urteil vom 24.08.2022 – 14 U 22/22).

Betroffene mussten also nicht nur die psychische Erkrankung infolge des Schicksals des Angehörigen darlegen und beweisen, sondern es wurde für den Schockschaden immer ein außergewöhnliches Ausmaß der psychischen Beeinträchtigung gefordert.

Wie sieht es nach der neuen BGH-Entscheidung aus?

Jetzt gesteht der BGH nach teils erheblicher Kritik aus der Fachliteratur ein, dass er damit eine Ungleichbehandlung von körperlichen und seelischen Schäden vorgenommen hatte. In seiner Entscheidung vom 06.12.2022 heißt es zunächst unverändert, soweit die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar sei, hat sie Krankheitswert. Für eine Gesundheitsverletzung, die einen Schmerzensgeldanspruch nach sich zieht, ist es aber nicht länger erforderlich, dass die Störung auch noch ein außergewöhnliches Ausmaß aufweise. Typische psychische Erschütterungen wie Trauer oder seelischer Schmerz nach einem prägenden Schadenereignis reichen dafür nunmehr aus.

Damit werden die Rechte von Betroffenen, die wegen eines Schockschadens psychische Beeinträchtigungen erleiden, durchaus gestärkt. Es bleibt aber dabei, dass die Geschädigten für das Vorliegen der seelischen Erkrankung und ihre Ursache den vollen Beweis zu führen haben.

Wie ist das Verhältnis von Schockschaden und Hinterbliebenengeld?

Die nahen Angehörigen eines bei einem Verkehrsunfall oder nach einem ärztlichen Behandlungsfehler verstorbenen Menschen haben seit 2017 nach § 844 Abs.3 BGB gegenüber dem Verursacher einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld. Damit hat der deutsche Gesetzgeber zum Ausgleich für die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen einen gewissen Ausgleich geschaffen, den es in den meisten europäischen Ländern schon seit Längerem gab.

Grundsätzlich haben Schockschaden und Hinterbliebenengeld eine völlig unterschiedliche Zielrichtung. Mit dem Hinterbliebenengeld soll die „normale“ Trauer eines Menschen mit persönlichem Näheverhältnis zu der getöteten Person gelindert werden. Das Schmerzensgeld für einen Schockschaden hingegen gleicht das Leid einer „echten“ psychischen Erkrankung aus, die Betroffene persönlich erlitten haben. Deshalb gibt es Stimmen in der juristischen Fachliteratur, nach denen beide Ansprüche nebeneinander bestehen können. Das OLG Celle hat diese Frage in seinem Urteil vom 24.08.2022 offen gelassen, weil es – noch vor dem neuen BGH-Urteil – einen Schockschaden abgelehnt hatte. Eine Entscheidung des BGH, ob ein Schockschaden-Schmerzensgeld auf ein Hinterbliebenengeld angerechnet werden muss, steht noch aus.

Was können Sie tun?

Sollten Sie oder Ihnen bekannte Personen wegen des Schicksals eines nahen Angehörigen, der von einer anderen Person verletzt oder gar getötet wurde, unter Schock stehen oder deshalb an psychischen Problemen leiden, können Sie ein Schmerzensgeld oder ein Hinterbliebenengeld vom Schädiger fordern. Lassen Sie dazu am besten von einem Fachanwalt für Medizinrecht beraten.

 

von Rechtsanwalt Timm Laue-Ogal

 

In seinem Urteil vom 20.12.2022 (Az. 9 AZR 245/19) hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) seine Rechtsprechung zum Resturlaub bei Krankheit den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) angepasst.

Der Fall

Es ging um die Klage eines Fraport-Frachtfahrers. Der Mann war von Dezember 2014 bis August 2019 voll erwerbsgemindert und somit arbeitsunfähig. Nach Rückkehr an seinen Arbeitsplatz forderte er seinen Resturlaub aus 2014 ein.

Der Arbeitgeber berief sich auf die bisherige Rechtsprechung des BAG, nach der restliche Urlaubsansprüche eines Kalenderjahres bei dauerhafter Erkrankung mit Ablauf des 31. März des übernächsten Jahres verfallen.

Das Urteil

Erst vor kurzem hat das BAG entschieden, dass restliche Urlaubsansprüche aus den Vorjahren ansonsten nur dann erlöschen, wenn der Arbeitgeber ausdrücklich darauf hingewiesen und der Arbeitnehmer trotzdem seinen Resturlaub nicht beantragt hatte.

Nach dem neuen Urteil des BAG – der eine Vorabentscheidung des EuGH vorausgegangen war – gelten diese Grundsätze so ähnlich auch für nicht genommenen Urlaub vor einer längeren Krankheit.

Wenn der Arbeitnehmer im Laufe des Jahres, in dem er krank wurde, längere Zeit gearbeitet hatte, und der Arbeitgeber ihn nicht in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub auch tatsächlich zu nehmen, dann bleibt der Resturlaub für dieses Jahr bestehen, so das BAG. Der Arbeitgeber des Frachtfahrers hatte im Jahr 2014 nicht angeregt, dass der Frachtfahrer bis Ende November zumindest einen Großteil seines Jahresurlaubs nimmt. Das hält das BAG für eine Verletzung der Mitwirkungsobliegenheiten. Deshalb sei der restliche Urlaub aus 2014 nicht verfallen.

Im Ergebnis durfte der Fahrer also auch im Jahr 2019 noch seinen restlichen Urlaub aus 2014 nehmen.

Die Folgen für Sie

Arbeitnehmer, die länger arbeitsunfähig erkrankt waren, sollten überprüfen, ob ihnen noch restliche Urlaubstage aus dem Jahr zustehen, in dem die Erwerbsunfähigkeit begann. Hat der Arbeitgeber keine Hinweise erteilt, dass Urlaubsansprüche möglichst im Laufe des Jahres nach und nach zu beantragen sind, könnte ein Anspruch auf Resturlaub (oder Abgeltung) noch bestehen.

Für Arbeitgeber bedeutet das BAG-Urteil, künftig idealerweise mit einer frühzeitigen Jahresurlaubs-planung dafür zu sorgen, dass die Beschäftigten keine Resturlaubsansprüche anhäufen, die ggfs. bei längerer Krankheit eines Mitarbeiters noch erheblich später zu gewähren oder zu vergüten sind.

 

Lassen Sie sich durch die Arbeitsrechtsexperten bei rechtskontor49 beraten, wie Sie auf die neue Linie der Rechtsprechung am besten reagieren.

von Rechtsanwalt Henning J. Bahr

 

Der Schlachthof der Fa. Oldenburger Geflügelspezialitäten GmbH & Co. KG in Lohne/Niedersachsen hatte in den vergangenen Jahren durch den Landkreis Vechta das Recht erhalten, bis zu 800.000 m³ Grundwasser für seinen Betriebe zu fördern. Seit dem Jahr 2013 ist von dieser Gesamtmenge ein Teil von 250.000 m³ zwischen dem Naturschutzbund (NABU), der Umweltbehörde und dem Unternehmen umstritten. Bereits im Jahr 2016 konnte der NABU mit meiner Unterstützung Nds. Oberverwaltungsgericht erzielen, der auch vor dem Bundesverwaltungsgericht Bestand hatte: Die im Jahr 2013 erteilte Genehmigung wurde aufgehoben.

Seit dem Jahr 2018 war ein fast gleichlautender Bescheid über die gleiche Fördermenge ergangen. Diesen habe ich wiederum für den NABU vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg angegriffen. Das Verfahren wurde am 12.12.2022 vor der ersten Kammer verhandelt, die den Bescheid erneut aufgehoben hat. In der Pressemitteilung des Gerichts liest sich das wie folgt:

Das Gericht hat dabei eine fehlerhafte Ausübung des wasserrechtlichen Bewirtschaftungsermessens (§ 12 Abs. 2 Wasserhaushaltsgesetz; WHG) durch den Beklagten angenommen. Das Bewirtschaftungsermessen verpflichtet die Behörden dazu, bei ihrer Entscheidung über einen Antrag auf die Genehmigung einer Grundwasserentnahme unter anderem die im Gesetz (§ 6 WHG) niedergelegten allgemeinen Grundsätze der Gewässerbewirtschaftung zu beachten und hält sie zu einer nachhaltigen, u.a. sparsamen Bewirtschaftung der Wasserkörper an. Damit ist bei der behördlichen Entscheidung grundsätzlich auch die Frage nach der Notwendigkeit bzw. Erforderlichkeit der beabsichtigten Wasserentnahme in den Blick zu nehmen.

Die Kammer ist zu der Einschätzung gelangt, dass der Beklagte diese Aspekte nicht hinreichend geprüft hat, da der von dem Unternehmen bei der Antragstellung angemeldete Wasserbedarf sich aus dem Bedarf mehrerer selbstständiger Unternehmen zusammensetzt. Diesen Umstand hat der Beklagte bei seiner Entscheidung nach Auffassung des Gerichts nicht ausreichend berücksichtigt. Insbesondere konnte das Gericht nicht feststellen, dass der Beklagte sich hinsichtlich der nur von dem beigeladenen Unternehmen beantragten Erlaubnis einen vollständigen und zutreffenden Überblick über den Zweck und den Umfang der beantragten Wasserentnahmemenge gemacht hat. Aus der beantragten Wasserentnahmemenge sollte zugleich der Wasserbedarf eines anderen, allerdings nicht am Verfahren beteiligten Unternehmens, das in Lohne ebenfalls Lebensmittel herstellt, gedeckt werden.

Über das Verfahren haben noch andere Medien berichtet:

Die Pressemitteilungen hierzu finden Sie hier:

 

von Rechtsanwalt Timm Laue-Ogal

 

Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel hat am 10.11.2022 in vier Parallelverfahren entschieden, dass die gesetzlichen Krankenkassen nur in ganz speziellen Fällen die Kosten für medizinisches Cannabis zu übernehmen haben. Drei Revisionen wurden zurückgewiesen, nur im Fall meines Mandanten wurde das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) aufgehoben und an das LSG Niedersachsen-Bremen zur weiteren Klärung zurückverwiesen.  Sobald die schriftlichen Urteilsgründe vorliegen, ist ein erster Schritt hin zur sicheren Kostenübernahme für Cannabisprodukte durch die Krankenversicherungen erreicht.

Ausgangspunkt

Der Gesetzgeber hat Anfang 2017 eine Neuregelung im 5. Sozialgesetzbuch (SGB V) eingeführt. Nach § 31 Abs.6 SGB V kann seitdem unter bestimmten Voraussetzungen medizinisches Cannabis zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden. U.a. besteht nach dieser Norm bei einer schwerwiegenden Erkrankung eines Versicherten ein Anspruch auf Versorgung mit Cannabis, wenn nach begründeter ärztlicher Einschätzung andere Medikamente aufgrund ihrer Nebenwirkungen im konkreten Einzelfall nicht zur Anwendung kommen können.

Dennoch kam es in vielen Fällen dazu, dass die Kassen Anträge auf Genehmigung der Versorgung abgelehnt haben. Entweder wurde eine Erkrankung des Antragstellenden nicht als schwerwiegend genug angesehen, oder es wurde die Begründung des Vertragsarztes für unzureichend gehalten und auf alternative Medikamente verwiesen. Zudem vertraten mehrere Kassen die Auffassung, es müsse zwingend ein formalisiertes BtM-Rezept zur Genehmigung vorgelegt werden und eine vorherige Cannabisabhängigkeit stünde einer Kostenübernahme entgegen.

Der Fall

Mein Mandant, gesetzlich krankenversichert bei der Bahn-BKK, leidet seit Jahren an einer chronischen schwerwiegenden ADHS-Erkrankung. Er ist deshalb nicht mehr in der Lage, einer geregelten Arbeit nachzugehen und Sozialkontakte aufrecht zu erhalten. Er hatte erfolglos verschiedene ADHS-Medikamente ausprobiert, die keine Besserung bewirkten, sondern vielmehr erhebliche Nebenwirkungen hervorriefen. Der Mandant linderte daraufhin seine Beschwerden mit selbst beschafftem Cannabis.

Nach Inkrafttreten des § 31 Abs.6 SGB V beantragte er im Mai 2017 über seinen behandelnden Arzt bei der Bahn-BKK die Kostenübernahme für medizinisches Cannabis. Die Bahn-BKK lehnte ab und verwies auf anderweitige Therapieoptionen. Der Mandant legte Widerspruch ein. Begleitet von seinem Arzt und trotz dessen Bedenken testete er parallel ein weiteres Medikament, dessen Einnahme zu suizidalen Tendenzen führte und sofort abgebrochen werden musste. Eine ambulante Psychotherapie half dem Mandanten nicht weiter, eine von ihm beantragte stationäre Therapie wurde nicht bewilligt. Dennoch wies die Bahn-BKK den Widerspruch zurück.

Seine Klage wurde vom Sozialgericht Osnabrück (SG) abgewiesen. Das LSG wies seine dagegen eingelegte Berufung zurück. Zur Begründung wurde auf ein fehlendes BtM-Rezept sowie darauf verwiesen, dass nicht alle Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft seien.

Auf meine Nichtzulassungsbeschwerde hin ließ das BSG die Revision gegen die LSG-Entscheidung zu.

Mit meiner Revisionsbegründung legte ich dar, dass Bahn-BKK, SG und LSG die Intention des Gesetzgebers missachteten. Ausweislich der Gesetzesbegründung hatte er den Zugang zu medizinischem Cannabis und die ärztliche Therapiehoheit mit § 31 Abs.6 SGB V zu stärken beabsichtigt.

Zusammen mit der Aufhebung der Urteile habe ich beantragt, die Bahn-BKK zu verpflichten, die zukünftigen Kosten für Cannabisblüten zur Linderung des ADHS meines Mandanten zu übernehmen sowie die seit Antragstellung dafür von ihm selbst aufgewendeten Kosten von über 12.000,- € zu erstatten.

Die Entscheidung des BSG vom 10.11.2022

Bereits im Vorfeld des Termins hatte der zuständige Senat angedeutet, einige Klarstellungen zum Text des § 31 Abs.6 SGB V vornehmen zu wollen, damit die Vorschrift für alle Parteien eindeutiger handhabbar wird.

So kam es dann auch: Das BSG nahm in seinen mündlichen Urteilsbegründungen eine Definition für den Begriff „schwerwiegende Erkrankung“ vor und erstellte einen Anforderungskatalog an die „begründete Einschätzung“ der Vertragsärzte, warum nur noch Cannabis in Betracht kommt. Liegen diese Anforderungen vor, so dürfen die Kassen die ärztliche Entscheidung nicht mehr inhaltlich, sondern nur noch auf Plausibilität überprüfen. Deutlich machten die Kasseler Richter auch, dass ein spezielles BtM-Rezept nicht unbedingt erforderlich ist und dass eine vorherige Cannabisabhängigkeit einer Kostenübernahme eben nicht entgegensteht.

Im Fall meines Mandanten entschied das BSG, dass das LSG Niedersachsen-Bremen den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt hat und verwies das Verfahren daher an das LSG zurück.

Das LSG hat nun herauszuarbeiten, inwieweit der behandelnde Arzt meines Mandanten bei Antragstellung sein Krankheitsbild und die Unbedenklichkeit von Cannabisprodukten bei dessen ADHS erläutert sowie Nebenwirkungen bereits getesteter Medikationen geschildert hat und ob der vom BSG erstellte Anforderungskatalog an die ärztliche begründete Einschätzung nach § 31 Abs.6 SGB V damit von ihm erfüllt wurde. Dazu waren von mir im Verfahren mehrere ärztliche Bescheinigungen vorgelegt worden, die das LSG jedoch nicht hinreichend gewürdigt hatte.

Kommt das LSG zu dem Schluss, dass alle vom BSG aufgestellten Vorgaben erfüllt sind, wird es die Bahn-BKK antragsgemäß zur Erstattung der von meinem Mandanten verauslagten Kosten und zur künftigen Kostenübernahme für Cannabisblüten zu verurteilen haben.

Was ist von der BSG-Entscheidung zu halten?

Zu begrüßen ist, dass der Senat die frühere Cannabisabhängigkeit nicht als Ausschlusskriterium für eine Kostenübernahme durch die Kassen sieht. Auch der Einschätzung einiger Kassen, es sei zwingend ein BtM-Rezept zur Genehmigung vorzulegen, hat das BSG eine Absage erteilt.

Kritisch zu bewerten ist allerdings, dass das BSG mit seinen strengen Vorgaben an die ärztliche Begründungspflicht den eigentlichen Willen des Gesetzgebers nicht umsetzt, der – wie oben ausgeführt – einen erleichterten Zugang zu medizinischem Cannabis ermöglichen und die ärztliche Therapiefreiheit stärken wollte. Außerdem fordern die Kasseler Richter den behandelnden Ärzten eine Mehrarbeit ab, für die es keine entsprechende Vergütung gibt. Die Abarbeitung des vom BSG für die Begründung der Cannabis-Notwendigkeit konstruierten Anforderungskatalogs bedeutet einen zusätzlichen, nicht unerheblichen Aufwand für die Vertragsärzte, ohne den es aber keine Genehmigung der Krankenkassen geben wird.

Was können betroffene Schwerkranke jetzt tun?

Sobald die Urteile des BSG mit vollständigen Entscheidungsgründen vorliegen, werde ich einen Leitfaden für Patient*innen und Ärzt*innen erstellen, in dem ich die Vorgaben des BSG in Form einer Checkliste zusammenfasse. Damit soll allen Beteiligten ein Tool an die Hand gegeben werden, um einen Antrag auf Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen erfolgversprechend und mit möglichst geringem Mehraufwand stellen zu können.